Politische Unterstützung gegen materielle Vorteile: Klientelismus als Erfolgskonzept der AKP

Düzgün Arslantaş

15. September 2020

Standpunkt

Als die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Adalet ve Kalkınma Partisi, kurz: AKP) unter der Führung des ehemaligen Istanbuler Bürgermeisters Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2002 an die Macht kam, hatte niemand erwartet, dass dies der Beginn der längsten Einparteienregierung in der modernen Türkei sein würde. Angesichts der islamischen Prägung der AKP-Gründer und der starken säkularen Tradition in der türkischen Bürokratie und Justiz war diese Entwicklung höchst unwahrscheinlich.

Doch anders als vermutet, hat die Regierung Erdoğan die Hüter des alten Regimes in weniger als einem Jahrzehnt dramatisch geschwächt oder sie sogar zu Werkzeugen der Partei gemacht. Umfassende gesellschaftliche und politische Reformen versprechen seither eine „neue Türkei“. Der vor Kurzem vollzogene Übergang zu einem neuen Präsidialsystem türkischer Art deutet auf den Aufbau eines autoritären Ein-Mann-Regimes hin – und das in einem Land, das auf eine lange Tradition der Wahldemokratie zurückblickt.

»Wie aber lässt sich die anhaltende Dominanz der AKP erklären?«

Es gibt viele verschiedene Aspekte, die zum Wahlerfolg dieser Partei beitragen, darunter beispielsweise das disproportionale Wahlsystem und die bewusste Spaltung ethnischer und religiöser Gruppen. Was jedoch im Vergleich zu anderen Faktoren bisher zu wenig untersucht wurde, ist die Rolle des Klientelismus bei der Aufrechterhaltung der AKP-Vorherrschaft in der Türkei. In meiner Dissertation bin ich dieser Frage nachgegangen, ausgehend von einer ethnografischen Feldforschung im Istanbuler Stadtteil Bağcılar, wo Armut weit verbreitet ist und islamistische Gruppen aktiv sind.

Der Klientelismus, der als Tausch materieller Vorteile gegen politische Unterstützung definiert werden kann, zielt in der Regel auf die Armen ab, da sie die größte gesellschaftliche Gruppe darstellen. Im Stadtteil Bağcılar etwa stellt die AKP nicht nur materielle Leistungen wie Lebensmittel und Kohle bereit, sondern vergibt auch Arbeitsplätze in der öffentlichen Verwaltung an loyale Anhänger, um sich deren Unterstützung zu sichern. Diese Strategie vergrößert trotz der grassierenden Korruption die Wählerbasis der Partei. Das ist paradox und kommt am besten in einem Satz zum Ausdruck, der unter Parteianhängern häufig zu hören ist: „Sie stehlen, aber sie dienen.“

Trotz der Anreizwirkung dieser Vorteile führt der Klientelismus nicht automatisch zu einer Stimme für die AKP. Worin aber besteht der Mechanismus? Meine Feldforschung zeigt, dass die Beteiligung am klientelistischen Tausch von Gütern und Dienstleistungen gegen politische Unterstützung und Wählerstimmen die Identifikation der Parteianhänger mit der AKP fördert und die Neoliberalisierung der islamischen Ideologie vorantreibt, was dann wiederum den Kreislauf der Dominanz reproduziert. Ersteres erklärt, warum die politische Polarisierung stärker ist als die religiöse und ethnische, und – noch wichtiger – warum eine Art „feindlicher Parteinahme“ vorherrscht. Letzteres ist wichtig, um zu verstehen, wie Islam und Neoliberalismus, die als unvereinbar galten, sich zunehmend annähern und miteinander vermischen. Dieser Wandel erklärt auch, warum ärmere Bevölkerungsschichten sich den neoliberalen Reformen nicht nur nicht widersetzten, sondern sie sogar uneingeschränkt begrüßt haben, obwohl diese ihren materiellen Wohlstand bedrohen.

»Die anhaltende Wirtschaftskrise stellt das Erdoğan-Regime ernsthaft in Frage«

Parteien können sich durch Klientelismus jedoch nur Stimmen sichern, solange genügend Ressourcen vorhanden sind. Sobald diese knapp werden, schwächt sich die Identifikation mit der Partei wieder ab. Dementsprechend sehen wir, dass die anhaltende Wirtschaftskrise das Erdoğan-Regime ernsthaft infrage stellt. Die unmittelbare Folge ist, dass mit der Verknappung der öffentlichen und privaten Ressourcen der Klientelismus der AKP exklusiver geworden ist. Die Partei musste die Wechselwähler aufgeben, obwohl diese bei den Wahlen einen entscheidenden Einfluss haben. Die Niederlagen der AKP bei den Kommunalwahlen in Istanbul und Ankara können so interpretiert werden. Noch wichtiger ist, dass mit dem Rückgang der materiellen Ressourcen die nichtmaterielle Komponente des Klientelismus – die islamische Ideologie – allmählich zu einem Ersatz für die materiellen Begünstigungen geworden ist, anstatt sie zu ergänzen. Dies scheint die bereits jetzt beunruhigende politische und soziale Polarisierung im Lande noch zu verstärken.

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