Strategien gegen hohe Preise: Ein Essay über die Wirkungen und Nebenwirkungen von Leitzinserhöhungen und Tarifabschlüssen
Martin Höpner
Standpunkt
Die Preise steigen und steigen. Nicht nur Energie ist in den letzten Monaten deutlich teurer geworden, auch für Lebensmittel müssen wir spürbar mehr ausgeben als noch vor einem Jahr. Die Europäische Zentralbank versucht gegenzusteuern: Seit Juni 2022 hat sie dreimal an der Zinsschraube gedreht und kündigt weitere Leitzinserhöhungen an. Doch ist das die richtige Strategie? Der Politikwissenschaftler Martin Höpner warnt vor geldpolitischem Übereifer und empfiehlt, die Lohnentwicklung im Blick zu behalten.
Die Inflation schien verschwunden. Nicht Inflations-, sondern Deflationsdruck plagte die entwickelten Volkswirtschaften in den letzten zwei Dekaden. Wenig deutete darauf hin, dass sich das bald ändern würde. Innerhalb von gerade einmal anderthalb Jahren sind wir in einer anderen Welt. Zweistellige Anstiege der Verbraucherpreise, das gab es in Deutschland zuletzt während der Korea-Krise im Jahr 1951 – und selbst da nur in zwei von vier Quartalen des Jahres.
Bis zur Jahresmitte 2022 verzichtete die Europäische Zentralbank (EZB) darauf, den steigenden Preisen mit Zinserhöhungen entgegenzuwirken. Harsche Kritik daran kam besonders aus Deutschland. Die Einwände waren nachvollziehbar, denn mit der Notwendigkeit, die zu niedrige Inflationsrate zurück auf das Inflationsziel von 2 Prozent zu schieben, ließ sich das Festhalten an der Nullzinspolitik bereits in der zweiten Jahreshälfte 2021 nicht mehr begründen. Schon da lag die Inflationsrate mit 5 Prozent sowohl in Deutschland als auch im Eurozonen-Durchschnitt deutlich über der Zielmarke.
Die EZB reagierte also, wie auch die Notenbanker einräumen, ziemlich spät – und dann aber energisch. Seit Juli 2022 hat sie den Zinssatz für Hauptrefinanzierungsgeschäfte, das ist der wichtigste Leitzins, dreimal erhöht. Weitere Zinsschritte werden in Aussicht gestellt. Nun, so meine ich, besteht die Gefahr, dass die EZB im Übereifer zu viel tut. Genauer gesagt: Mich irritiert, dass die europäische Notenbank ihre Ankündigungen nicht im Hinblick auf die Lohnpolitik konditioniert. Lassen Sie mich erklären, was ich damit meine.
Die Gefahr der Lohn-Preis-Spirale
Bisher sind die Ursachen der Inflation vor allem auf der Angebotsseite angesiedelt. Bereits während der Pandemie haben gestörte Lieferketten die Vorprodukte verteuert. Hinzu kamen deutliche Steigerungen der notorisch schwankenden Energiepreise. Waren sie im Jahr 2020 noch gefallen, zogen sie im Jahr 2021 deutlich an. Wie wir heute wissen, war das nur der Anfang. Infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine und der daraufhin verhängten Sanktionen sollten die Energiepreise, besonders die Preise auf importiertes Erdgas, förmlich explodieren. Das führt bis heute durch die Bank zu Preissteigerungen, weil Energie in allen Produkten und praktisch allen Dienstleistungen steckt. Alles, was man kaufen kann, wird teurer.
Etwas anderes sind Inflationen mit Zweitrundeneffekten, die man auch Lohn-Preis-Spiralen nennt. Damit werden Dynamiken bezeichnet, in denen sich Preise und Löhne gegenseitig hochschaukeln. Gewerkschaften wollen den Kaufkraftverlusten ihrer Mitglieder entgegenwirken und reagieren auf steigende Preise daher mit steigenden Lohnforderungen, harten Arbeitskämpfen und schließlich hohen Lohnabschlüssen. Damit erhöhen sie den Kostendruck auf die Unternehmen zusätzlich, die wiederum die Preise erhöhen müssen, was die Gewerkschaften erneut zu hohen Lohnforderungen ermuntert – und so fort. Selbst wenn die anfänglichen Ursachen der Preisschübe bereits beseitigt sind, kann sich Inflation auf diesem Wege verfestigen. Dass Notenbanken solche Spiralen mit deutlichen Zinserhöhungen stoppen müssen, ist unstrittig.
Gewerkschaften reagieren stabilitätsorientiert
Entscheidend ist nun, dass wir solche Zweitrundeneffekte weder in Deutschland noch in der Eurozone insgesamt beobachten. Die Gewerkschaften haben bisher äußerst stabilitätsbewusst auf die steigenden Preise reagiert. Denken Sie etwa an den Tarifabschluss im Chemiesektor vom Oktober 2022 oder den im Metallbereich vom November. Das waren, stellt man die langen Laufzeiten der Tarifverträge in Rechnung, niedrige Abschlüsse (der ersten Tariferhöhung im Metallbereich ist zudem eine achtmonatige Nullrunde vorgeschaltet). Die Gewerkschaften muten ihren Mitgliedern mit solchen Lohnvereinbarungen viel zu. Lohn-Preis-Spiralen sind derzeit nicht zu erkennen. Ich würde noch weiter gehen: Das Ausmaß an stabilitätsorientierter Lohnpolitik, das wir derzeit in Deutschland, bisher aber auch in anderen Eurozonen-Ländern erleben, ist sensationell. Wir haben es nicht so erwartet.
Meines Erachtens sollte die EZB daraus Konsequenzen ziehen und ankündigen, ihre Leitzinsen weiter und durchaus auch deutlich zu erhöhen, wenn es Anzeichen für Zweitrundeneffekte gibt – aber eben nur dann. Besonders in Deutschland ermuntern Beobachter die EZB derzeit dazu, die Zinsen so oder so zu erhöhen. Das begründen sie mit der Notwendigkeit, dämpfend auf die Entwicklung der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen einzuwirken. Genau das, eine Dämpfung der Nachfrage, bewirkt die vorsichtige Lohnpolitik der Gewerkschaften aber ohnehin: Die Diskrepanz zwischen Inflation und Lohnerhöhungen senkt die Reallöhne und damit die Nachfrage.
Zurückhaltung muss sich auszahlen
Richtig ist leider, dass die Inflation auch ohne Zweitrundeneffekte nicht so schnell verschwinden wird, wie wir uns das wünschen. Das lässt sich an der Kluft zwischen den Anstiegen der Erzeugerpreise einerseits und der Verbraucherpreise andererseits ablesen. Die Erzeugerpreise, die die Herstellungskosten inklusive Vorprodukten erfassen, sind im Jahr 2022 nicht nur um knapp über 10 Prozent, sondern um 30 bis 40 Prozent gestiegen. Das bedeutet, dass noch viel Kostendruck in den Unternehmen schlummert, der erst nach und nach über die Produktpreise an die Verbraucher weitergegeben wird. Die Verbraucherpreise dürften daher auch dann noch steigen, wenn die Erzeugerpreise schon wieder zu sinken beginnen. Daran ändern allerdings auch Zinserhöhungen nichts, im Gegenteil: Die dann erhöhten Finanzierungskosten kommen auf den Kostendruck der Unternehmen vielmehr zusätzlich obendrauf.
Wenn die EZB sich ohne Beachtung der lohnpolitischen Reaktionen auf mittelfristig steigende Leitzinsen festlegt, könnte das die Gefahr von Zweitrundeneffekten sogar erhöhen. Denn dann geht von der Notenbankpolitik kein Disziplinierungseffekt auf die Lohnpolitik aus. Die Gewerkschaften müssen vielmehr schlussfolgern: Es macht für die Höhe der Leitzinsen offenbar keinen Unterschied, wie wir auf die Preisschübe reagieren. Aber das ist noch nicht alles. Mit Zinserhöhungen verschlechtert die Notenbank die Refinanzierungsfähigkeit der Staaten, die es dann schwerer haben, ärmere Haushalte zu entlasten. Fallen die staatlichen Entlastungen aber weg, bleibt den Gewerkschaften nichts anderes übrig, als auf dem Wege der Lohnpolitik für Entlastungen zu sorgen – dann aber mit direkten Wirkungen auf den Kostendruck der Unternehmen.
Unterschiedliche Lohnpolitiken in der Eurozone
Wir haben gesehen, dass es von der Lohnpolitik abhängt, ob Kostenschübe über Zweitrundeneffekte zu nicht nur kurz-, sondern auch mittelfristig hohen Inflationsniveaus führen. Das ist einer der Gründe, warum wir am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung der Lohnpolitik besondere Aufmerksamkeit widmen. In mittelfristiger Sicht könnte sich ein Problem daraus ergeben, dass es in der Eurozone in Wahrheit nicht „die“ Lohnpolitik gibt – sondern neunzehn unterschiedliche Lohnpolitiken der Euro-Teilnehmerländer mit unterschiedlichen Institutionen der Lohnfindung, Kräfteverhältnissen, Problemwahrnehmungen und Reaktionsmustern auf ökonomische Schocks. Auf einheitliche Reaktionen der Lohnpolitik kann die EZB stimmig reagieren, wenn auch zum Nachteil von Wachstum und Beschäftigung. Aber nicht auf neunzehn unterschiedliche.
Bisher sehen wir auch in anderen Eurozonen-Ländern kaum Anzeichen für Lohn-Preis-Spiralen. Wir wissen aber nicht, ob das so bleibt. Kommt es zu keinem Gleichklang der lohnpolitischen Reaktionen, könnten sich im Euroraum unterschiedliche Inflationsraten verstetigen, so wie wir es bereits in den ersten zehn Eurojahren beobachten konnten. Die Länder mit höheren Inflationsraten erlitten Verschlechterungen ihrer Wettbewerbsfähigkeit, die Refinanzierbarkeit ihrer Staatsschulden ging in den Keller. Genau so entstand die Eurokrise. Die Inflation stellt die Eurozone daher vor eine große Belastungsprobe. Auch wenn es derzeit nicht so aussieht: Der Euro ist noch lange nicht über den Berg.