Über Fleisch und Konsummoral

Laura Einhorn

12. Mai 2021

Standpunkt

Die Anzahl der Deutschen, die dem Fleischkonsum den Rücken kehren und sich fleischlos ernähren, ist in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen und lag im Jahr 2020 bereits bei etwa 6,5 Millionen. Dies ist allerdings kein universeller Trend, der sich quer durch die deutsche Bevölkerung und durch alle sozialen Gruppen zieht. Lassen wir das Alter und das Geschlecht (die beide eine durchaus wichtige Rolle spielen!) außen vor, zeigen sich interessante Verbindungen zwischen Fleischkonsum und sozialem Hintergrund.

Statistisch betrachtet hängt unser Fleischkonsum von unserem Bildungsgrad und zum Teil auch von unserem Einkommen ab. Höhere Bildung bedeutet weniger Fleischkonsum; Menschen mit kleinen, aber interessanterweise auch mit sehr hohen Einkommen essen mehr Fleisch als Menschen mit mittleren Einkommen. Es sind auch vor allem Verbraucherinnen und Verbraucher mit mittleren Einkommen, die komplett auf Fleisch verzichten. Personen mit mehr formaler Bildung kaufen teureres, also vermeintlich auch besseres Fleisch. Besserverdienende kaufen weniger verarbeitete Fleischprodukte, dafür aber mehr Rindfleisch als andere Konsumenten und Konsumentinnen. Vegetarische Ernährungsweisen sind bei Alleinlebenden weiterverbreitet als in Mehr-Personen-Haushalten oder in Haushalten mit Kindern. Besonders viele Studierende, aber auch überdurchschnittlich viele Selbstständige ernähren sich fleischlos. Diese Liste ließe sich so fortführen.

»Die Anzahl der Deutschen, die sich fleischlos ernähren, lag im Jahr 2020 bereits bei etwa 6,5 Millionen.«

Sollten wir aufgrund dieser Erkenntnisse bedenkenlos den Vorwurf akzeptieren, dass sich vor allem Menschen mit geringerer formaler Bildung nicht für Tierleid, für die Umwelt oder gar für ihre Gesundheit interessieren? Oder dass sie es nicht besser wissen und es umfassender Informationskampagnen bedarf? Oder dass einige Menschen einfach unmoralisch konsumieren?

So einfach ist es sicherlich nicht. Während sich zwei Variablen rechnerisch leicht in Verbindung bringen lassen, bleiben die Mechanismen, die hinter diesen Zusammenhängen stehen, oft unerklärt. Auch wenn es zahlreiche Ernährungsberaterinnen und -berater, Aufklärungskampagnen, vegetarische Kochbücher und Food Blogs gibt – Ernährungsroutinen zu verändern, die sich jahrelang eingespielt und als funktional erwiesen haben, ist äußerst schwierig. Es braucht Zeit und Energie, sich neue Rezepte anzueignen, Einkaufslisten umzuschreiben und Produkte kennenzulernen. Zudem ist Fleisch eine zentrale Komponente vieler Mahlzeiten, an die wir in den westlichen Industrienationen seit Jahrzehnten gewöhnt sind. Es entstehen Konflikte, wenn der Wunsch nach einem vegetarischen Abendessen nicht den Vorstellungen der anderen Haushaltsmitglieder entspricht. Wenn Fertigprodukte auf den Tisch kommen, weil Kochen zu kostspielig, zeitaufwendig oder ermüdend ist, müssen entsprechende Angebote in den Tiefkühltruhen der Supermärkte liegen. Vegetarische Ersatzprodukte und Gerichte dürfen den Preis konkurrierender fleischbasierter Alternativen nicht übersteigen. Solange nicht alle Verbraucherinnen und Verbraucher Zugang zu erschwinglichen vegetarischen Angeboten haben, führen Vorwürfe eher zu Abwehrreaktionen, die dann sogar gegenteilige Effekte haben können.

Denn moralischer Konsum kann auch bedeuten, den Kindern das Lieblingsessen zuzubereiten oder sie nach bestem Wissen und Gewissen möglichst ausgewogen zu ernähren. Er kann bedeuten, den Eltern oder Großeltern mit dem Sonntagsbraten eine Freude zu bereiten. Oder den Kindern den Besuch eines Fast-Food-Restaurants nicht zu verwehren, um sie vor dem Spott der Mitschülerinnen und Mitschüler zu bewahren. Er kann bedeuten, lieber einen neuen Fernseher zu kaufen als das teure Bio-Fleisch, um bei Nachbarn und Bekannten mithalten zu können. Oder Kompromisse bei der Menüwahl einzugehen, um Menschen mit unterschiedlichen Geschmäckern an einen Tisch zu bringen.

Zur Redakteursansicht