Die Flucht nach Europa: Gefährlich und teuer

Hannah Pool

17. Mai 2022

Standpunkt

Weltweit sind nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen 88 Millionen Menschen auf der Flucht. Asyl kann in der Europäischen Union jedoch nur beantragt werden, wenn sich die Menschen bereits auf dem Territorium der EU befinden. Folglich müssen Asylsuchende zunächst physisch die EU erreichen. Dafür sind sie fast immer auf Geld angewiesen. Wie schaffen es Menschen in Notsituationen, die finanziellen Mittel für den Weg in sichere Länder zusammenzubekommen?

»Wie bringen Menschen in Notsituationen die finanziellen Mittel für ihre Flucht auf?«

Die Rolle von Geld und sozialen Beziehungen, die ökonomischen Austausch beeinflussen, stehen im Mittelpunkt meiner Forschung zur Frage, wie wirtschaftliche Interaktionen und soziale Beziehungen es Menschen ermöglichen, Geld zu erwerben, zu verleihen, zu tauschen und auszugeben, um zu fliehen. Seit 2015 beschäftige ich mich mit den Fluchtrouten aus Afghanistan nach Westeuropa. Ethnografisch durfte ich Menschen aus Afghanistan auf ihrer Route aus dem Iran, durch die Türkei, Griechenland und entlang der sogenannten Balkan-Route zwischen 2018 und 2020 begleiten und sie dabei wiederholt interviewen.

Meine Forschung am Beispiel Afghanistans zeigt, dass der Austausch von Geld auf der Flucht keinen rechtlich normierten Regeln folgt, da formelle Kontrollinstanzen und ein übergreifendes Ordnungssystem fehlen. Stattdessen entscheiden insbesondere soziale Beziehungen und wirtschaftliche Transaktionen über das Aufbringen der finanziellen Mittel für die Flucht in die Europäische Union. Dazu werden soziale Beziehungen zum gesamten Umfeld aus Familienmitgliedern, Freundinnen und Freunden sowie Mitflüchtenden aktiviert. Vor allem dem Verleih und dem Austausch von Geld zwischen Menschen, die gemeinsam unterwegs sind, kommt auf der Flucht eine wichtige Rolle zu. So legen beispielsweise Familien ihr Geld zusammen, um es als Darlehen zu verleihen. Darüber hinaus müssen Flüchtende unterwegs immer wieder Geld verdienen, beispielsweise arbeiten viele afghanische Flüchtende auf ihrem Fluchtweg als Tagelöhner oder in der Land- und Bauwirtschaft, um Schleuser zu bezahlen.

»Vor allem soziale Beziehungen und wirtschaftliche Transaktionen entscheiden über das Aufbringen der finanziellen Mittel für die Flucht in die EU.«

Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im Sommer 2021 gingen die Bilder von Tausenden Menschen, die auf dem Kabuler Flughafen auf ihre Evakuierung warteten, um die Welt. Diese Evakuierung auf dem Luftweg war jedoch eine Ausnahme in der afghanischen Geschichte. Seit dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan 1979 sind mehr als sechs Millionen Menschen auf Landwegen aus Afghanistan in den Iran oder nach Pakistan geflohen. Seit 2014 ist die Zahl afghanischer Asylsuchender in Deutschland laut Mikrozensus auf fast 193.000 Menschen angestiegen. Zwanzig Jahre war die Bundeswehr im Auslandseinsatz in Afghanistan, woraus sich auch für Deutschland eine Verantwortung ergibt.

Deutschland ist seit 2015 zu einem der Hauptländer geworden, in denen Menschen Asyl beantragen und Sicherheit suchen. Ihre Fluchtrouten können sich dabei sowohl geografisch als auch in Bezug auf die Dauer sehr unterscheiden; daraus folgt, dass die Flüchtenden auch ganz unterschiedliche Bedarfe haben können. Ein tieferes Verständnis der Fluchtrouten und -dynamiken sowie der Fluchterfahrungen ist notwendig, um humanitäre Hilfe entlang der Routen sowie adäquate finanzielle und psychologische Unterstützungen nach der Ankunft zu leisten.

Zur Redakteursansicht