Leibniz-Preis für Jens Beckert

14. Dezember 2017

Jens Beckert erhält mit 10 weiteren Forscherinnen und Forschern die höchste wissenschaftliche Auszeichnung Deutschlands. Der Soziologe wird ausgezeichnet für seine Arbeiten zur Erneuerung einer interdisziplinären Perspektive in den Sozialwissenschaften, vor allem im Schnittfeld von Soziologie und Wirtschaftswissenschaft – zwei Disziplinen, die sich seit Langem überwiegend isoliert voneinander entwickelt haben. Der Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) verliehen und ist mit jeweils bis zu 2,5 Millionen Euro dotiert.

Jens Beckert (50), Direktor am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, forscht auf dem Gebiet der "Neuen Wirtschaftssoziologie", die die Einbettung von ökonomischen Prozessen und Entscheidungen in den sozialen Handlungskontext betont – eine Sichtweise, die in der ökonomischen Theorie bisher wenig Aufmerksamkeit erhält.
 
Beckert gehört zu den international führenden Vertretern seines Fachs. Seine Arbeiten befassen sich mit der sozialen Einbettung der Wirtschaft, insbesondere anhand der Untersuchung von Märkten. Ein besonderer Schwerpunkt ist hier die Frage, wie der Wert von Gütern zustande kommt – ein Thema, das Beckert etwa anhand des Kunstmarktes, des Lottomarktes und des Weinmarktes untersucht hat. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Organisationssoziologie und die Soziologie der Erbschaft. Sein ambitioniertes, stark theoretisch orientiertes Forschungsprogramm schließt an die neueren Ansätze der Wirtschaftssoziologie in den USA an, geht aber zugleich über sie hinaus. Im Mittelpunkt seiner Forschung steht die Frage, wie Akteure in der Wirtschaft mit fundamentaler Ungewissheit umgehen. Wie treffen Akteure Entscheidungen, wenn es nicht möglich ist zu wissen, welche die beste Handlungsalternative ist? Er orientiert sich dabei an einem Handlungsmodell, das stark auf der Tradition des amerikanischen Pragmatismus fußt.
 
Der gebürtige Frankfurter sieht die Aufgabe seines Fachgebietes in der Entwicklung theoretischer Konzepte und in der Durchführung empirischer Untersuchungen zu wirtschaftlichen Prozessen, ausgehend vom Forschungsinstrumentarium der Soziologie. "Wirtschaftliches Handeln ist eine Form des sozialen Handelns", sagt der Forscher. "Die wirtschaftlichen Entscheidungen von Akteuren können wir daher nur verstehen, wenn wir den gesamten sozialen und politischen Hintergrund einbeziehen."
 
In seinem aktuellen Buch "Imagined Futures" (Harvard University Press 2016; deutsche Fassung: Suhrkamp 2018) widmet er sich dem Phänomen der Nichtvorhersagbarkeit der Zukunft und dessen Implikationen für wirtschaftliches Handeln. Er entwickelt hiermit den theoretischen Rahmen für einen neuen Blick auf die Dynamik des Kapitalismus. Im Mittelpunkt seiner Untersuchung stehen die fiktionalen Erwartungen der Akteure – Imaginationen und Narrative darüber, was die Zukunft bringt. Mit den Instrumenten der Soziologie und der Literaturtheorie liefert er eine umfassende Charakterisierung dieser Erwartungen, untersucht ihre Funktionsweisen in Bereichen wie Geld, Investitionen, Innovation und Konsum und zeigt vor allem, wie mächtig sie sind: Fiktionale Erwartungen sind der Treibstoff der Ökonomie, können diese aber auch in tiefe Krisen stürzen, wenn sie als hohle Narrative entlarvt werden. Jens Beckerts Studie ist ein innovativer Beitrag zur Kapitalismustheorie, der zeigt, dass das Wesen des Kapitalismus sich erst erfassen lässt, wenn wir die Unwägbarkeit der Zukunft einbeziehen und die Rolle fiktionaler Erwartungen verstehen lernen.
 
Jens Beckert erlangte 1991 den Master in Soziologie an der New School for Social Research, New York, und schloss 1993 als Diplom-Kaufmann sein Studium an der Freien Universität Berlin ab. 1996 promovierte er an der FU Berlin, wo er sich 2003 auch habilitierte. Nach dem Studium war er zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der FU (1993–1999), 1994–1995 als Visiting Research Fellow in Princeton, anschließend Habilitationsstipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1999–2001), John F. Kennedy Memorial Fellow in Harvard (2001–2002) und Associate Professor of Sociology an der International University Bremen (2002–2003). 2003 folgte er einem Ruf auf die Professur für Gesellschaftstheorie in Göttingen. Im Jahr 2005 wurde er zum Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und zum Professor für Soziologie an der Universität zu Köln berufen.

 
Pressemitteilung der DFG vom 14.12.2017
 

Forscherportrait und Interview

"Das Individuum ist nicht genug"
Süddeutsche Zeitung, 14.6.2016
 
Beyond Embeddedness: Economic Sociology as a Historical Theory of Society [Link aktualisieren, wenn eng Portraits angeglegt sind]
Studia Socjologiczne 226(3), 239-256, 2017
 
 

Ausgewählte Veröffentlichungen

Bücher

Imagined Futures: Fictional Expectations and Capitalist Dynamics. Cambridge, MA: Harvard University Press, 2016
Deutsche Übersetzung: Imaginierte Zukunft: Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp, 2018. Im Erscheinen.
 
The Architecture of Illegal Markets: Towards an Economic Sociology of Illegality in the Economy (co-edited with Matías Dewey). Oxford: Oxford University Press, 2017
 
Erben in der Leistungsgesellschaft. Frankfurt a.M.: Campus, 2013
 
The Worth of Goods: Valuation and Pricing in the Economy (co-edited with Patrick Aspers). Oxford: Oxford University Press, 2011
 
Unverdientes Vermögen. Soziologie des Erbrechts. Frankfurt a.M.: Campus, 2004
 
 

Aufsätze

Woher kommen Erwartungen? Die soziale Strukturierung imaginierter Zukünfte. MPIfG Discussion Paper 17/17. Köln: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, 2017
 
Die Historizität fiktionaler Erwartungen. MPIfG Discussion Paper 17/8. Köln: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, 2017
 
Wine as a Cultural Product: Symbolic Capital and Price Formation in the Wine Field (co-authored with Jörg Rössel and Patrick Schenk). Sociological Perspectives 60, 1, 206–222 (2017)
 
The Enduring Importance of Family Wealth: Evidence from the Forbes 400, 1982 to 2013 (co-authored with Philipp Korom and Mark Lutter). Social Science Research 65, 75–95 (2017)
 
Imagined Futures: Fictional Expectations in the Economy. Theory and Society 42, 3, 219–240 (2013)
 
The Price of Art. (co-authored with Jörg Rössel). European Societies 15, 2, 178–195 (2013)
 
Where Do Prices Come From? Sociological Approaches to Price Formation. Socio-Economic Review 9, 4, 757–786 (2011)
 
The Social Order of Markets. In: Theory and Society 38, 245–269 (2009)

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