Eine Pionierin der Nachkriegssoziologie

Die Gründungsdirektorin des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Renate Mayntz wird 90 Jahre alt

16. April 2019

Nach einer wissenschaftlichen Karriere, deren Anfänge durch die Erfahrungen aus der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit geprägt wurde, gilt Renate Mayntz heute als die Grande Dame der deutschen Soziologie. Als Gründungsdirektorin leitete sie von 1985 bis 1997 das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Am 28. April 2019 feiert sie ihren 90. Geburtstag.

Renate Mayntz ist in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Forschungslandschaft: Sie ist eine herausragende Sozialwissenschaftlerin der Nachkriegsgeneration, die erste Gründungsdirektorin eines Max-Planck-Instituts und vermutlich eine von wenigen Forscherinnen und Forschern, die im Alter von über 80 Jahren noch wissenschaftlich aktiv sind. Die Arbeiten von Renate Mayntz auf den Gebieten der Gesellschaftstheorie, der politischen Steuerung, Politikentwicklung und -implementation sowie der transnationalen Regulierung gelten als richtungsweisend für die Soziologie.
 
Der Weg, den sie in ihrem wissenschaftlichen Schaffen zurückgelegt hat, verlief über die Organisationssoziologie, die Politikwissenschaften und schließlich die Gesellschaftsforschung. Ein zentrales Thema verbindet diese Forschungsphasen: das politische Element sozialen Handelns – der Versuch, gesellschaftliche Prozesse und Strukturen im spannungsreichen Wechselspiel mit oft machtvollen sozialen Dynamiken zu erklären und durch politische Steuerung bewusst zu gestalten.
 
Renate Mayntz’ Forschungsinteresse richtete sich stets auch auf die Fragen wissenschaftlicher Politikberatung. Bereits in den 1970er-Jahren hat sie in der Studienkommission zur Reform des öffentlichen Dienstrechts mitgearbeitet und war Mitglied im Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Nach dem Fall der Berliner Mauer hat sie bei der Auflösung und Umgestaltung der Akademie der Wissenschaften der DDR und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften mitgewirkt. Immer wieder hat sie sich für die innovative Gestaltung politischer und administrativer Entscheidungsverfahren in engagiert.
 
1984 erhielt Renate Mayntz von der Max-Planck-Gesellschaft den Auftrag zur Gründung des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung (MPIfG) in Köln, das sie bis zu ihrer Emeritierung 1997 zusammen mit dem Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf leitete. Unter der gemeinsamen Ägide wuchs das Institut zu einem interdisziplinären und internationalen Zentrum zur Erforschung der sozialen und politischen Grundlagen moderner Gesellschaften heran.
 

Kurzprofil

 
Geboren 1929 in Berlin, Studium in den USA (B.A. 1950) und an der Freien Universität Berlin (Dr. phil. 1953); dort auch Habilitation (1957). Erste Forschungstätigkeiten im UNESCO-Institut für Sozialwissenschaften Köln, später als DFG-Stipendiatin und als Rockefeller Fellow in den USA. 1965 Ordinarius für Soziologie an der Freien Universität Berlin, 1971 an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, 1973 an der Universität zu Köln. 1985 Gründungsdirektorin des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung (MPIfG), Köln. Direktorin am MPIfG von 1985 bis zur Emeritierung 1997.
 
Ausländische Lehrtätigkeiten: Columbia University, New York; New School for Social Research, New York; University of Edinburgh; FLASCO (Facultad Latino-Americana de Ciencias Sociales), Santiago de Chile; Stanford University.
 
Für ihr herausragendes wissenschaftliches Lebenswerk erhielt Renate Mayntz 2006 den Preis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und 2010 den Innovationspreis des Landes NRW. Für ihre Verdienste um die Gründung der Organisationssoziologie in Deutschland wurde sie 2008 mit dem Ernst Hellmut Vits-Preis ausgezeichnet.


Autobiografische Aufsätze


Renate Mayntz
Mein Weg zur Soziologie: Rekonstruktion eines kontingenten Karrierepfades. In Wege zur Soziologie nach 1945: Biographische Notizen, hrsg. von Christian Fleck, 225–35. Opladen: Leske + Budrich, 1996.
 
Renate Mayntz
Eine sozialwissenschaftliche Karriere im Fächerspagat. In Soziologie als Beruf: Erinnerungen westdeutscher Hochschulprofessoren der Nachkriegsgeneration, hrsg. von Karl Martin Bolte und Friedhelm Neidhardt, Bd. 11 von Soziale Welt, Sonderhefte, 315–29. Baden-Baden: Nomos, 1998.
 

Ausgewählte Werke


Sovereign Nations and the Governance of International Finance. In Critical Junctures in Mobile Capital, edited by Jocelyn Pixley and Helen Flam, 38–51. Cambridge: Cambridge University Press, 2018.
 
Handeln und Struktur, Akteur und System: Die kausale Rekonstruktion von sozialen Makrophänomenen am Beispiel der Finanzkrise. Zeitschrift für Theoretische Soziologie 1/2017: 5–26 (2017).
 
Negotiated Reform: The Multilevel Governance of Financial Regulation, ed. Frankfurt a.M.: Campus, 2015.
 
Die Finanzmarktkrise im Licht einer Theorie funktioneller Differenzierung. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 66 (1): 1–9 (2014).
 
Crisis and Control: Institutional Change in Financial Market Regulation, ed. Frankfurt a.M.: Campus, 2012.
 
Mechanisms in the Analysis of Social Macro-Phenomena. Philosophy of the Social Sciences 34 (2): 237–59 (2004).
 
Akteure – Mechanismen – Modelle: Zur Theoriefähigkeit makrosozialer Analysen, Hg. Frankfurt a. M.: Campus, 2002.
 
Soziale Dynamik und politische Steuerung: Theoretische und methodologische Überlegungen. Franfurt a.M.: Campus, 1997.
 
Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, Hg., mit Fritz W. Scharpf. Frankfurt a. M.: Campus, 1995.
 
The Development of Large Technical Systems, ed. with Thomas P. Hughes. Frankfurt a.M.: Campus, 1988.
 
Implementation politischer Programme: Ansätze zur Theoriebildung, Hg. (Band I 1980, Band II 1983). Opladen: Westdeutscher Verlag.
 
Soziologie der Organisation. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1963.
 

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