Das Individuum ist nicht genug
Jens Beckert - Forscherporträt
Wie kommt es, dass ein simples Kunstwerk Millionen Euro kostet? Allein mit den Methoden der Ökonomik, glaubt Jens Beckert, lassen sich solche Fragen nicht beantworten. Deshalb sucht der Wirtschaftssoziologe andere Erklärungen.
Jens Beckert interessiert sich für die einfachen Fragen. Etwa: Wie kann es sein, dass die eine Flasche Wein 1,50 Euro, eine andere aber 200 Euro kostet? Einfache Fragen, die ganz schön kompliziert werden, wenn man länger darüber nachdenkt. Sie provozieren Beckerts Suchinstinkt. "Das ist wie ein Puzzle", sagt er. "Am Anfang hat man noch nicht alle Teile beisammen, dann weiß man nicht, wie diese zusammenpassen. Dann aber entsteht ein Bild – und plötzlich versteht man, was man zuvor nicht verstanden hat."
Tatsächlich kann Beckert, wenn er Schritt für Schritt nachzeichnet, wie er arbeitet, am Ende strahlen wie ein Kind, das gerade das letzte Teil in ein Puzzle fügt.
Seinen Suchinstinkt hat Beckert, Jahrgang 1967, früh entdeckt. Mit 13 Jahren nimmt er zum ersten Mal an einem Geschichtswettbewerb teil. Zum Soziologiestudium geht er an die Freie Universität Berlin, bis er dort nach einer Zwischenstation in Bremen habilitiert wird. Zunächst erhält er eine Professur für Gesellschaftstheorie in Göttingen – und wird im März 2005 im Alter von nur 37 Jahren Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung. Aufenthalte an der Harvard-University, in Princeton und an Pariser Instituten prägen seinen Lebenslauf.
Wer Beckert trifft, erlebt einen Menschen mit dem Selbstverständnis eines überzeugten Wissenschaftlers: An erster Stelle steht die Suche nach Erklärungen; Beraten und Belehren sind ihm eher fremd. Er will auf subtilere Art aufklären und vertraut darauf, dass Politiker, Manager und andere einflussreiche Menschen nach Maximen handeln, die sie im Laufe ihrer Ausbildung gelernt haben. Er will ihnen dazu nur die Forschungsergebnisse liefern.
Als Soziologe weiß Beckert, wie komplex das Konstrukt hinter dem Begriff Gesellschaft ist. Und wie unzureichend die Wirtschaftswissenschaften sein können, um dieses Konstrukt zu erklären: Er wünscht sich, dass auch die Ökonomik viel mehr gesellschaftliche Prozesse in den Blick nimmt und weniger nur auf den Einzelnen schaut.
»Die Ökonomik sollte viel mehr gesellschaftliche Prozesse in den Blick nehmen und weniger nur auf den Einzelnen schauen.«
Schon in seiner Dissertation setzt sich Beckert kritisch mit dem Homo oeconomicus auseinander, jenem oft angegriffenen und missinterpretierten Modell eines durch und durch rationalen Menschen, der stets perfekt informiert handelt. Wenig später untersucht er den Kunstmarkt, eine wunderbare Spielwiese, an der sich beispielhaft zeigen lässt, dass die isolierte Betrachtung von Individuen vieles nicht erklären kann. Er durchforstet Datenbanken, die Preisentwicklungen von Künstlern enthalten und gleicht diese mit den Künstlerbiografien ab: Wer stellt wo aus? Wem widmen sich die wichtigen Kunstverlage? Wessen Werke werden von den Museen gekauft?
So zeichnet Beckert nach, welche Präferenzen die einzelnen Akteure auf dem Kunstmarkt haben – und wie daraus Preise werden. Die traditionellen Wirtschaftswissenschaften setzen Präferenzen als gegeben voraus. Sie sind vor allem ein nüchternes Abwägen von Kosten und Nutzen. "Aber dass ein in Formaldehyd gepackter Hai von Damien Hirst zwölf Millionen Dollar wert ist, das lässt sich weder mit der teuren Herstellung erklären noch damit, dass er den Leuten so gut gefällt", sagt Beckert. Vielmehr werde der Wert eines Kunstwerks ermittelt, indem die einzelnen Akteure auf diesem Markt – Galerien, Kuratoren, Kunstkritiker und Kunden – miteinander kommunizieren und so gesellschaftlich akzeptierte Qualitätsvorstellungen entstehen. Der Preis wird in solchen Fällen zu einem sozialen Konstrukt.
Ganz ähnliche Mechanismen wirken beim Wein. Anhand von Beispielen wie dem teuren Bordeaux oder dem Hai von Hirst zeigt Beckert, wie ein Wert entsteht. Genau diese Frage sei derzeit in der Ökonomie unterbelichtet. Beckert findet das einigermaßen erstaunlich angesichts der Tatsache, dass in der westlichen Welt viele Produkte weniger wegen ihrer Funktionalität gekauft werden. Das iPhone, der Porsche oder auch manche Reiseziele sind Statussymbole. "Wenn Sie erklären wollen, warum Sylt so teuer ist, hilft es Ihnen wenig, dort hinzufahren. Sicher ist es schön dort. Aber anderswo ist es auch schön. Und kostet die Hälfte."
»Erst die Assoziationen, die ein Produkt weckt, schaffen den Wert.«
Erst die Assoziationen, die ein Produkt weckt, schaffen den Wert. Dieser Wert, sagt Beckert, werde immer wieder neu verhandelt: So sei es für einen Konzern wie Apple sogar ungünstig, wenn plötzlich jeder ein iPhone hätte. Zwar beschrieb der US-Ökonom Thorstein Veblin bereits 1899 in seiner Theory of the Leisure Class das Phänomen, dass die Nachfrage nach bestimmten Gütern trotz einer Preiserhöhung steigen kann, weil Kunden es vorziehen, dadurch ihren Status zu zeigen. Aber für die Frage, wie die Präferenzen für diese Statusgüter entstehen, könne die Wirtschaftssoziologie einen wertvollen Beitrag leisten, sagt Beckert: "Da würde ich mir auch mehr Aufmerksamkeit in der Ökonomik wünschen."
Die Wirtschaftswissenschaften schotteten sich im Vergleich zu anderen Sozialwissenschaften stärker ab. Dass sie sich in den vergangenen 20 Jahren vor allem der Psychologie geöffnet haben, liegt nach Beckerts Ansicht vor allem daran, dass beide Wissenschaften in ihren Erklärungsmustern beim Individuum ansetzen. Aber gerade die gesellschaftlichen Prozesse seien wichtig, um Ursachen wie Folgen wirtschaftlichen Handelns zu verstehen, sagt Beckert. Etwa bei der Verlagerung von Jobs: Aus Gründen der Effizienz, jenem Kriterium, auf das sich die Ökonomie im Wesentlichen stützt, sei es schlüssig, eine Fabrik dort anzusiedeln, wo die Lohnkosten niedrig sind. Die Soziologie erinnere daran, dass es neben der Effizienz auch andere Kriterien gebe, etwa die Gerechtigkeit. Sie erinnere daran, dass man, um die Konflikte um die Verlagerung von Jobs zu verstehen, auch das Gerechtigkeitsempfinden der Arbeiter berücksichtigen muss, die gegen Stellenabbau protestieren.
Rein rational ließe sich auch nicht erklären, warum Menschen Lotto spielen, denn die statistische Gewinnerwartung ist viel zu gering. Beckert fragte Lottospieler nach ihren Beweggründen: Zwei Drittel der Befragten malten sich aus, was sie mit einem möglichen Gewinn machen könnten. "Sich in diese Traumwelten zu begeben ist ein zentrales Motiv beim Kauf des Spielscheins", sagt er. Ökonomische Modelle können solche Motive nicht erklären. Für ihn war dies ein Aha-Erlebnis, das ihn zu einer weiteren großen Frage führte: Woher kommen Erwartungen im ökonomischen Handeln?
Für die Ökonomik sind Erwartungen überwiegend rational: Ein Unternehmer trifft eine Entscheidung zu Investitionen auf der Grundlage aller Informationen, die er in der Gegenwart sammelt. "Dieses buchhalterische Verständnis wird der Dynamik von kapitalistischen Systemen nicht gerecht", findet Beckert. Denn die Zukunft, die dem Unternehmer die errechneten Gewinne bringen soll, ist unsicher. Und das gesellschaftliche Zusammenspiel ist komplex. Beckert plädiert deshalb dafür, die Erwartungen als "imaginierte Zukunft" zu verstehen. In seinem Modell basieren Entscheidungen eher auf Interpretation als auf Kalkulation.
»Beckert plädiert dafür, Erwartungen als ›imaginierte Zukunft‹ zu verstehen. In seinem Modell basieren Entscheidungen eher auf Interpretation als auf Kalkulation.«
Ein Risikokapitalgeber beispielsweise, der in Produkte eines Start-ups investiert, die es noch gar nicht gibt, versuche zwar, mit all den vorhandenen Informationen möglichst genau zu errechnen, ob sich das lohnt. Doch dabei gehe es nicht nur um Zahlen, sondern auch um die Vorstellungen, die er sich von der Zukunft macht. Die Geschichte, die über ein junges Unternehmen erzählt wird, treibt die Investitionsentscheidungen. Ein Akteur beeinflusse mit einer guten Story die Erwartungen anderer. Gründer, Investoren, Aktienhändler, sie alle werden zu Geschichtenerzählern.
Beckertwarnt davor, das als etwas Manipulatives zu betrachten. Ein Start-up-Unternehmer, der seine Ideen vorträgt, sei überzeugt, dass er das beste Produkt hat. "Den Beweis dafür gibt es nicht, der liegt in der Zukunft." Dahin gelangt das Start-up aber nur, wenn es die Erwartungen der Investoren so beeinflusst, dass diese ihm überhaupt erst die Mittel zur Verfügung stellen, die es zum Erfolg führen.
»Gründer, Investoren, Aktienhändler, sie alle werden zu Geschichtenerzählern.«
In seinem kürzlich erschienenen Buch "Imagined Futures. Fictional Expectations and Capitalist Dynamics" legt Beckert sein Modell ausführlich dar. Aber es gebe noch einige Fragen, die er nun mit seinen Mitarbeitern am Max-Planck-Institut ergründen will: Wer sind die Akteure, die diese Geschichten erzählen? Und was macht eine Geschichte glaubhaft? Einfache Fragen, die kompliziert werden, wenn man genauer darüber nachdenkt.
Zwei Lieblingsbücher
Ein Sachbuch, das Beckerts Denken geprägt hat, ist "Die große Transformation" von 1944. Der ungarisch-österreichische Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi, zeige darin, wie die Gesellschaft an Stabilität verliert, wenn sie nur noch als Anhängsel des Marktes gilt. Das Buch gilt heute als eines der Hauptwerke der Soziologie des 20. Jahrhunderts. Im Bereich der Belletristik fällt Beckerts Wahl auf den Bestseller "The Circle" von Dave Eggers, und begründet das so: Der Thriller beschreibe eine Gesellschaft, die sich technologischen und wirtschaftlichen Imperativen unterwirft. Eine schaurige Dystopie.