Über Verteilungsfragen darf gesprochen werden

Lea Elsässer

26. Februar 2020

Standpunkt

Die deutsche Sozialdemokratie hat ein turbulentes Jahr hinter sich: historisch schlechte Wahlergebnisse bei Europa- und Landtagswahlen, der Rücktritt der Parteivorsitzenden und schließlich die langwierige Wahl einer neuen Parteispitze – erstmals bestimmt durch ein Mitgliedervotum und mit einem Überraschungssieg des linken Parteiflügels.

Als am Abend des 30. November 2019 bekannt wurde, dass sich Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans in der Stichwahl um die Parteispitze durchgesetzt hatten, ließ das Medienecho nicht lange auf sich warten. Dabei sprach aus den meisten Zeitungskommentaren große Skepsis bis offene Abneigung gegenüber dem neuen Führungsduo und seiner politischen Ausrichtung. Man konnte von einem unvernünftigen „Linksruck“, einer besorgniserregenden „Selbstzerstörungsmechanik“ und „ideologischem Fundamentalismus“ lesen. Diese Reaktionen bezogen sich vor allem auf die verteilungspolitischen Forderungen des Duos. So hatten die beiden unter anderem eine höhere Besteuerung von Spitzeneinkommen und Vermögen sowie die Anhebung des Mindestlohns gefordert.

Anders als die mediale Berichterstattung vermuten lässt, halten die Bürgerinnen und Bürger diese neuen sozialdemokratischen Forderungen nicht für abwegig. Mehr als 50 Prozent der Menschen in Deutschland befürworten beispielsweise die Besteuerung hoher Vermögen, und das nicht erst seit der gerade aufgeflammten Debatte. In repräsentativen Bevölkerungsumfragen hat sich seit Jahren regelmäßig eine Mehrheit für die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer ausgesprochen. Ähnlich ist es mit dem Mindestlohn. Schon lange vor seiner Einführung unterstützte die Bevölkerungsmehrheit das Vorhaben – und findet auch jetzt eine Erhöhung auf zwölf Euro richtig. Dies gilt in besonderem Maß für die (frühere) Kernklientel der Sozialdemokratie: Die Arbeiterschaft, einfache Angestellte oder Menschen mit geringem Einkommen befürworten umverteilende Maßnahmen stärker als Besserverdienende.

»Die Krise gab den Blick auf die Machtstrukturen in der Eurogruppe frei.« 

Viele der jüngst aufgebrachten Vorschläge des neuen SPD-Spitzenduos können also weniger als radikaler Linksruck, sondern vielmehr als eine Art (Wieder-)Annäherung an die politischen Anliegen derjenigen betrachtet werden, deren Fürsprecherin die SPD zu sein beansprucht. Gerade in verteilungspolitisch relevanten Fragen wurden die politischen Anliegen der sozial Schlechtergestellten in den letzten Jahrzehnten häufig übergangen – nicht nur, aber eben auch unter Regierungsbeteiligung der SPD. In meiner Forschungsarbeit zu den großen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen der letzten dreißig Jahre habe ich untersucht, welche Bevölkerungsgruppen sie befürwortet beziehungsweise abgelehnt haben. Natürlich waren nicht alle Vorschläge umstritten, und viele Reformen wurden von einer breiten Bevölkerungsmehrheit unterstützt – so zum Beispiel der Ausbau von Kita-Plätzen oder eben auch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. Gingen die Meinungen in der Bevölkerung allerdings auseinander, so waren die Entscheidungen systematisch zugunsten der Bessergestellten verzerrt. Seit Anfang der 1980er-Jahre wurde in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik keine einzige größere Reform beschlossen, die nur von unteren Einkommens- und Berufsgruppen befürwortet wurde, von den oberen aber abgelehnt. Andersherum dagegen gibt es viele Beispiele. Ob Riester-Reform, Lockerung des Kündigungsschutzes oder Hartz IV – viele Einschnitte ins Sozialnetz wurden mit Zustimmung der Einkommensstarken und gegen den Willen der ärmeren Bevölkerungsteile beschlossen.

Diese systematische Schieflage politischer Entscheidungen untergräbt nicht nur das Gleichheitsversprechen der Demokratie insgesamt, sondern auch das Ansehen von Parteien, deren selbst erklärtes Ziel soziale Gerechtigkeit ist. Ob der SPD ein glaubwürdiger Kurswechsel gelingen wird, ist trotz des neuen Führungsduos völlig offen. Zumindest aber hat die durch sie ausgelöste Diskussion dazu geführt, dass Verteilungsfragen stärker öffentlich diskutiert werden. Das mag nicht allen gefallen. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen über Verteilungsgerechtigkeit sind deshalb aber noch kein „ideologischer Fundamentalismus“, sondern notwendige Debatten in pluralistischen Demokratien.

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