Das Kita-Paradox: Wie der Betreuungsausbau soziale Ungleichheit verstärkt
Leon Wansleben
Wie ist es möglich, dass der Ausbau sozialer Infrastruktur Ungleichheiten verstärkt? Dieses Paradox zeigt sich bei der Ausweitung der Betreuungs- und Bildungsangebote für ein-bis dreijährige Kinder in Deutschland. Versorgungsungleichheiten in diesem Bereich gibt es schon lange. Doch seit der Einführung des Rechtsanspruchs auf Betreuungsplätze ab dem zweiten Lebensjahr durch den Bundestag 2008 haben diese Unterschiede zugunsten bessergestellter Familien und zulasten solcher mit geringen Einkommen, niedriger Bildung und Migrationshintergrund zugenommen. Diese Entwicklung ist besonders besorgniserregend vor dem Hintergrund hartnäckiger und teilweise sogar wachsender Ungleichheiten in Bildungs- und Karriereverläufen. Studien zeigen immer wieder, dass mehr Kitaplätze die Berufschancen von Müttern verbessern und gute Bildungsangebote die Entwicklungschancen von Kindern fördern – insbesondere für Kinder aus benachteiligten Familien.
Lange hieß es, Betreuungsungleichheiten seien vor allem auf unterschiedliche kulturelle Präferenzen und Bedürfnisse zurückzuführen. Familien mit Migrationshintergrund und niedrigen Bildungsabschlüssen – so die Unterstellung – orientieren sich eher an konservativen Rollenbildern und Erziehungsmodellen: Mütter bleiben lieber zu Hause bei den Kindern. Empirische Befunde widersprechen aber der Annahme, dass solche Präferenzen und Normen den Ausschlag geben. Auch scheinen die Betreuungskosten für Familien zumindest in Deutschland die Ungleichheiten nur bedingt zu erklären. Zwar müssen Eltern in den allermeisten Kommunen eigene (oft einkommensabhängige) Beiträge zusätzlich zur staatlichen Finanzierung zahlen, doch die Ärmsten sind von den Gebühren befreit. Versorgungsungleichheiten gibt es auch in Kommunen wie Berlin, wo keine Elternbeiträge anfallen.
Eine Studie, die ich zusammen mit Kollegen vom Institut der deutschen Wirtschaft durchgeführt habe, untersucht einen anderen Aspekt. In den vergangenen Jahren haben vor allem gemeinnützige freie und konfessionelle Träger die erhöhte Betreuungsnachfrage gedeckt, während die Bedeutung kommunaler Kitas zurückgegangen ist. Theoretisch sollten Kommunen im Rahmen der Bedarfsplanung steuern, wo die freien und konfessionellen Träger neue Kitas eröffnen, und dabei auch „sozialräumliche Besonderheiten, wie die adäquate Versorgung von sozial oder wirtschaftlich benachteiligten Bevölkerungskreisen“ berücksichtigen, wie es etwa im Kinderbildungsgesetz von Nordrhein-Westfalen heißt. Doch bei einem generellen Platzmangel und rapide steigender Nachfrage geschieht dies offenbar nur unzureichend. Stattdessen konzentrieren sich die Träger in einer generellen Mangellage auf bessergestellte Familien.
Unsere Studie verwendet eine innovative Methode. Da keine umfassenden öffentlichen Statistiken zu den Versorgungsmustern vorliegen, haben wir die Standorte von Kitas unterschiedlicher Träger über Google Maps ermittelt. Auf diese Weise haben wir 17.099 Kitas in 2.613 Quartieren der 52 größten deutschen Städte identifiziert. Die Stadtforschung zeigt, dass urbane Quartiere in Hinblick auf ihre sozioökonomische Zusammensetzung stetig homogener werden – die Segregation zwischen Stadtteilen nimmt zu. Für unsere Analyse nutzen wir Daten der „innerstädtischen Raumbeobachtung“ des BBSR und untersuchen, wie hoch der Anteil der Sozialhilfeempfänger in einem Quartier ist, in dem sich eine Kita ansiedelt. Da es für Familien, und gerade für solche mit wenig Ressourcen, entscheidend ist, eine Kita in der Nähe zu finden, beeinflusst der jeweilige Standort der Kita stark, welche Bevölkerungsgruppen diese nutzen können.
»Für Familien mit wenig Ressourcen ist es entscheidend, eine Kita in der Nähe zu finden.«
Unser Befund ist klar: Die Kitas der zunehmend wichtigen freien und konfessionellen Träger siedeln sich vor allem in Quartieren mit besser situierten Familien an, während sie Quartiere mit vielen sozial schwächeren Haushalten meiden. Dadurch entstehen erhebliche Versorgungsungleichheiten zwischen Haushalten, die in sozial unterschiedlich entwickelten Quartieren leben.
Was sind die Ursachen? Es liegt kaum daran, dass die Träger auf wohlhabende Familien setzen, um Gewinne zu maximieren, denn es handelt sich fast ausschließlich um gemeinnützige Organisationen. Unsere Daten zeigen die selektive Standortwahl dieser Akteure auf, können aber nicht ihre Beweggründe erklären. Befragungen und Beobachtungen deuten jedoch darauf hin, dass die Ungleichheitsmuster aus Überlastung auf mehreren Ebenen entstehen. Die kommunale Bedarfsplanung ist schwach und bevorzugt offenbar Gruppen, die ihre Interessen am wirksamsten artikulieren können. Freie und konfessionelle Träger wählen bei Personalmangel und -überlastung eher Standorte, wo der Problemdruck schwächer ist und sie Eltern einfacher zur Unterstützung gewinnen können.
So entsteht aus einer erwünschten Entwicklung eine unerwünschte Nebenfolge: verstärkte Ungleichheit zwischen den Schichten – bedenklich für die gesamte Gesellschaft. Denn bei wachsenden Ungleichheiten in Bildungs- und Karrierechancen wird die Ausweitung der Betreuungs- und Bildungsangebote für Kinder aus benachteiligten Familien immer wichtiger. Die Verantwortlichen in Kommunen, Ländern und im Bund müssen handeln.












