Verfassungskrisen in Osteuropa: Zwischen europäischer und nationaler Einheit

Martin Mendelski

20. Juni 2018

Standpunkt

In Europa schwelt ein neuer Ost-West-Konflikt. Polen will den liberalen Rechtsstaat reformieren, der aus polnischer Sicht schlecht funktioniert, und setzt sich über Vorgaben der Europäischen Union hinweg. Gegenreformen dieser Art gab es auch in Ungarn und in Rumänien. Im Westen fordern nun viele, diese Länder mit Überwachungs- und Sanktionsmechanismen zum Einlenken zu bringen. Ein Fehler, meint der Autor. Er erklärt, warum die Europäisierung dort nicht nur positive Effekte hatte, und plädiert dafür, unterschiedliche Spielarten der politischen Einheitsbildung zu berücksichtigen.

Die Europäische Union wird immer stärker von Verfassungskrisen in ihren Mitgliedstaaten erschüttert. In Polen, Ungarn und Rumänien überlagern sich in jüngster Zeit politische, rechtliche, soziale und ideologische Konflikte zu einer „großen Verfassungskrise“. Aus einer westlichen, postnationalen Perspektive und einer liberalen Auffassung von Rechtsstaatlichkeit betrachtet, scheint diese Krise rechtlicher Natur zu sein – eine Sichtweise, die derzeit von den selbst ernannten Aufsichtsbehörden in Brüssel eingenommen wird. Oberflächlich gesehen geht es um die Instrumentalisierung von Recht und die Politisierung staatlicher Institutionen in einer Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der Legalität (also den Verfassungsgerichten als Garanten der Verfassungen) und jenen der Legitimität (Regierung, Präsident und Parlament als mehr oder weniger legitime Vertreter des Volkes).

Diese Krisen sind jedoch mehr als rechtliche Konflikte oder Rechtsstaatlichkeitskrisen. Es ist sinnvoller, sie als „Krisen der politischen Einheitsbildung“ zu betrachten – insbesondere, wenn man einen umfassenderen konstitutionell-soziologischen Blickwinkel einnimmt. Aus einer solchen Perspektive handelt es sich im Sinne des Staatsrechtlers Carl Schmitt um „Krisen des Politischen“. Das heißt, die Ursachen der Verfassungskrisen liegen in einem grundlegenden Konflikt über die Frage, wie sich innerhalb des politischen Systems Einheit herstellen und aufrechterhalten lässt.

Meiner Ansicht nach resultiert die große Verfassungskrise aus dem Zusammenprall von zwei konkurrierenden Möglichkeiten, die politische Einheit zu bilden: zum einen durch eine liberale Bewegung der Europäisierung, die mittels rechtlicher Integration versucht, eine postnationale Einheit zu generieren; zum anderen durch eine konservative, nationale Gegenbewegung, bei der patriotische Regierungen versuchen, die Einheit über die Stärkung des Nationalstaates und den Aufbau einer nationalen Identität wiederherzustellen.

Diese beiden Möglichkeiten spiegeln nicht nur die ideologische Spaltung zwischen Gesellschaft und Politik in den osteuropäischen Ländern wider, sondern auch eine größere Kluft innerhalb der EU: eine Spaltung zwischen den Befürwortern eines „liberal-europäischen“ Weges, hauptsächlich im westlichen Kerngebiet der EU, und den Unterstützern eines „restriktiv-nationalen” Kurses – vor allem in der östlichen Peripherie der EU. Dieser Riss wird derzeit in den ungelösten Streitfragen zur Migration, zur Interpretation der Verfassung und zur Kontrolle der Gerichte deutlich. Hierzulande werden die konservativen Regierungsparteien (PIS und FIDESZ) sowie deren Vorsitzende Jarosław Kaczynski in Polen und Viktor Orbán in Ungarn von liberalen Wissenschaftlern, Mainstream-Medien und EU-Vertretern als unzivilisierte, engstirnige Außenseiter abgestempelt, die gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen. In ihrer Heimat hingegen gelten diese Politiker vielen als legitime Vertreter des Nationalstaates, die ihr Land und das christliche Europa gegen die Etablierung einer liberalen und offenen Gesellschaft verteidigen.

Zusammen mit mehreren anderen Euroskeptikern aus Osteuropa (Robert Fico, Nikola Gruevski, Václav Klaus, Andrej Babiš) betonen sie ihre traditionellen nationalen Varianten von Demokratie und den Nationalstaat. Sie entdecken dabei die nationale Identität wieder und glorifizieren den Nationalstaat, den sie in Zeiten europäischer Krisen – egal, ob in Bezug auf Migration, Wirtschaft oder Identität – als wichtiges Mittel für die Sicherheit, die nationale Solidarität und die Einheit der Gesellschaft betrachten. Im Gegensatz dazu argumentieren die Befürworter eines postnationalen, liberalen und „zivilisierten” Europas, es gebe keine andere Möglichkeit zur Überwindung der aktuellen Probleme als eine stärkere europäische Integration.

Dieser Konflikt zwischen einem überwiegend liberalen westlichen Kern der Europäischen Union und einer eher konservativen, nationalen östlichen Peripherie ist durchaus problematisch. Er könnte sich noch verstärken und auf Dauer die Einheit und den Bestand der EU gefährden. Eine nachhaltige Lösung ist deshalb dringend erforderlich. Die technisch-legalistische Lösung der Europäischen Kommission, die sich unter dem Deckmantel der „Achtung (westlicher) Grundrechte“ auf die EU-Verträge und den eigens geschaffenen Rahmen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit (Artikel 7) beruft, ist lediglich ein hilfloser Versuch, in einer schwierigen Lage Zeit zu gewinnen.

Um die große Verfassungskrise in Osteuropa nachvollziehen zu können, müssen wir die strukturellen Ursachen dafür genauer betrachten. Diese gehen auf die Zeit der Wende nach dem Kommunismus Anfang der 1990er-Jahre zurück sowie auf die Phase strenger Auflagen vor und nach den EU-Beitrittsverhandlungen in der Zeit nach der Jahrtausendwende.

Die ursprüngliche liberale Bewegung entstand in den 1990er-Jahren mit dem Zusammenbruch des Kommunismus. Sie wurde von einem beispiellosen Wandel begleitet – auch als dreifacher Umschwung bezeichnet, da er mit drei zusammenhängenden Reformwellen verbunden war: erstens mit der demokratischen Liberalisierung, die eine politische Pluralisierung mit sich brachte, zweitens mit der wirtschaftlichen Neoliberalisierung einschließlich Deregulierung und Privatisierung von Staatsbetrieben und drittens mit einer institutionellen Liberalisierung, die später durch eine „Good-Governance“-Agenda ergänzt wurde. Diese beinhaltete Korruptionsbekämpfung, Verwaltungsreformen, die Bildung neuer Behörden und die Stärkung der Gerichte. Für Antikommunisten und Liberale bot diese außergewöhnliche Zeit die einmalige Chance, Gesellschaft, Wirtschaft und Staat mit forcierten Reformen in einer Art neoliberaler Schocktherapie zu transformieren – viele andere erlebten eher einen Schock ohne Therapie.

Die große postkommunistische Transformation machte einige zu Gewinnern und viele zu Verlierern. Sie führte zu einer freiheitlichen, kapitalistischen und pluralistischen Zivilisation westlichen Stils, deren Kehrseite anfänglich ein wirtschaftlicher Rückgang war und die bis heute mit wachsender Ungleichheit, mit Werteverfall und beschränkt funktionierenden Demokratien verbunden ist. Die gleichförmige (neo-)liberale Bewegung ignorierte in vielen Fällen alternative dritte Wege, welche die historischen und nationalen Besonderheiten der Länder berücksichtigt hätten.

Nationen wie die Slowakei, Rumänien oder Serbien, die sich widersetzten, wurden zum Teil mit Nachdruck überzeugt, trotz möglicher Alternativen das liberale Modell zu übernehmen. In Polen und Ungarn wurden Übergangsregelungen für die Regierung und die ersten liberalen Verfassungen teils an runden Tischen, teils aber auch in Hinterzimmerabsprachen zwischen den alten und den neuen Eliten ausgehandelt. Westlich geprägte Rechtsexperten (etwa Humboldt-Stipendiaten in Polen, zurückgekehrte regierungskritische Professoren und ausländische Berater) schrieben wichtige Teile der Verfassung praktisch über Nacht, ohne die breitere Öffentlichkeit einzubeziehen.

Die osteuropäische Verfassungsgebung hat bis heute keine Verankerung im Volk. Obwohl nachfolgende Verfassungsänderungen zuweilen breiter diskutiert und stärker legitimiert wurden, spiegeln viele Verfassungen in Osteuropa nach wie vor elitäre Abmachungen („dilatorische Scheinkompromisse“) wider und sind mehrdeutig formuliert. Kurz gesagt war die anfängliche liberale Bewegung gar nicht so demokratisch, wie liberale Wissenschaftler meinen. Gegen die pathologischen Folgen der (Neo-)Liberalisierung regte sich in den Ländern durchaus Widerstand – etwa, indem sich soziale Bewegungen gründeten, die Kommunisten an die Macht zurückkehrten oder in einigen Ländern patriotische Anführer in Erscheinung traten. All das entfaltete jedoch wenig Wirkung: Die Gegenbewegungen wurden mit Druck, mit Sparmaßnahmen und anderen Auflagen von außen erstickt.

Seit dem Ende der 1990er-Jahre fand die liberale Bewegung ihre Fortsetzung in der Europäisierung Osteuropas. Die EU-Erweiterung orientierte sich zunächst an den Kopenhagener Kriterien, vage formulierten Anforderungen an eine demokratische Regierung, an Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und an eine funktionsfähige Marktwirtschaft. Im Zuge der Erweiterung benutzte oder missbrauchte die Europäische Kommission Lage- und Fortschrittsberichte dazu, Einfluss auf die Länder auszuüben, die dem „zivilisierten Europa“ beitreten wollten. Die Europäisierung und die damit verbundenen Reformen zur Harmonisierung hatten ambivalente Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Sie brachte unter anderem „Pathologien der Europäisierung“ hervor, beispielsweise rechtliche Instabilität und Inkohärenz sowie Mängel bei der Durchsetzung des Rechts. Die Entpolitisierung des Staates führte oft zu verstärkter Politisierung durch die Parteien sowie zum Missbrauch von Schnellverfahren und Notverordnungen.

In der Periode vor dem Beitritt zur EU wurden viele Regierungen gedrängt, neutrale oder unabhängige Behörden und Kontrollinstanzen einzurichten: Integritäts-, Aufsichts- und Korruptionsbekämpfungsbehörden, Richterräte und Fachgerichte – ein Prozess, der zur Entpolitisierung und Fragmentierung der Staaten beitrug. Heute finden sich in vielen Ländern Südosteuropas mehr als 100 unterschiedliche staatliche Agenturen (in Rumänien zum Beispiel an die 200), die nicht in der Lage sind, ihre Handlungsweisen und Reformen wirksam zu koordinieren.

Während solche Institutionen in Westeuropa relativ gut funktionieren, haben sie sich insbesondere in Südosteuropa zu autonomen „Enklaven der Exzellenz“ oder „Parteilehen“ innerhalb des Staates entwickelt. Sie sind niemandem zur Rechenschaft verpflichtet und missbrauchen zum Teil ihre Macht zugunsten ihrer Patrone, Kollegen und Freunde. Demgegenüber treten die Interessen der ausgeschlossenen Mehrheit von Politikern, Anwälten, Geschäftsleuten und Bürgern in den Hintergrund. Ohne Beziehungen gibt es keinen Schutz.

So hat sich etwa in Rumänien die anfänglich bejubelte Erfolgsgeschichte der Korruptionsbekämpfung zu einem systematischen pathologischen Antikorruptionsfeldzug entwickelt. Gekennzeichnet ist er durch die Missachtung rechtlicher und demokratischer Verfahren, durch den Missbrauch von Überwachungsmaßnahmen und geheimen Absprachen mit Nachrichtendiensten. „Unzivilisierte“ (korrupte) Verhaltensweisen werden massenhaft mit strafrechtlichen und repressiven Methoden verfolgt – alles im Namen des europäischen Zivilisationsprozesses.

Die Europäisierung als Vereinheitlichung durch legale Maßnahmen erweist sich als äußerst problematisch. Erstens missachtet sie nationale Besonderheiten und den EU-Grundsatz der „Einheit in Vielfalt“. Zweitens löst sie die nationale Identität auf, die der Integration dient; ebenso nationale Regeln, die die Eigenverantwortung in den Ländern stärken. Drittens führt sie dazu, dass die Legitimität der EU und ihre weitere Integration geschwächt werden. Und viertens sorgt der Prozess der europäischen Integration über die Autorität des EU-Rechts und universelle Grundwerte dafür, dass die offenen, pluralisierten, aber fragmentierten Gesellschaften wieder reintegriert werden müssen.

Die aktuellen nationalen Gegenbewegungen, wie sie in Polen, Ungarn, Rumänien und andernorts auftreten, sind folglich ein Versuch, sich gegen die Herausforderungen und Pathologien einer verflochtenen Welt und einer EU zu schützen, die der nationalen Politik, der Gesellschaft, der Wirtschaft und dem Recht ihre einheitliche kosmopolitische und (neo-)liberale Agenda oktroyiert.

Anstatt diese Agenda passiv zu akzeptieren, wollen die gegenwärtigen Regierungen Polens und Ungarns ihre nationale, republikanische Tradition der Demokratie und einen gleichwertigen, sozialen Rechtsstaat aufbauen, welcher den abstrakten legalen Formalismus und die Ungerechtigkeiten des liberalen Rechtsstaats für ausgewählte Gruppen überwinden und Zugang für ausgeschlossene Gruppen aus der Peripherie öffnen möchte. Die rumänische Regierung möchte vor allem die von der EU geforderten Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung eindämmen, die zunehmend als missbräuchlich und illegitim wahrgenommen werden. Das überrascht nicht. Der ergebnisorientierte, repressive Ansatz in der Korruptionsbekämpfung hat die Entscheidungsfindung paralysiert und eine Atmosphäre der Furcht erzeugt. Der Antikorruptionskreuzzug hat inzwischen die politische Klasse und das ökonomische Kapital Rumäniens dezimiert – und damit vor allem für ausländische Investoren neue Marktchancen geschaffen.

Legitime politische Maßnahmen der rumänischen Regierung gegen solche „Pathologien der Europäisierung“ wurden von der EU mithilfe von Kooperations- und Kontrollverfahren nach dem Beitritt abgewürgt. Die Sparpolitik und andere Auflagen, welche die EU, der Internationale Währungsfonds und die Weltbank von außen verordneten, verstärkten die pathologischen Effekte auf wirtschaftlicher Ebene. Die nationale Gegenbewegung Rumäniens wurde durch das Eingreifen transnationaler Kontrolleure unterdrückt.

Da es mit einem fragmentierten Parteienstaat unmöglich war, die Gesellschaft zu schützen, hat Rumänien auf eine bewährte Strategie der Rückbesinnung und Reintegration des Staates durch informelle Institutionen und Netzwerke zurückgegriffen. Seit Jahrhunderten wenden die Rumänen solche Strategien an mit dem Ziel, stärkere Feinde zu überwinden – sei es das Osmanische oder das Russische Reich. Sie beruhen darauf, ausländisches Recht und ausländische Standards nicht durchzusetzen und stattdessen Solidaritätsnetzwerke untereinander zu bilden, wirtschaftliches Handeln auf die Schattenwirtschaft zu verlagern und den Zusammenhalt des fragmentierten Staates über verborgene Netzwerke wiederherzustellen.

Solche informellen Strategien können zwar dazu beitragen, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu reintegrieren, sie sind aber auch problematisch und können für private Interessen missbraucht werden, wie Hinweise auf einen Parallelstaat zeigen.

Die Regierungen in Polen und Ungarn setzen wiederum auf eine Strategie der nationalen Identität und Einheitsbildung, die patriotisch, republikanisch, christlich und konservativ ist und in der Krise die politische Einheit und Normalität wiederherstellen soll. Der liberale Prozess der Europäisierung sowie die Wirtschafts- und Migrationskrisen haben diese traditionellen Methoden zum Schutz und zur Selbstverteidigung des Politischen aktiviert und reflektieren eine wehrhafte Demokratie.

In Polen war die Smolensk-Tragödie von 2010 ein zusätzlicher Auslöser für den de facto Ausnahmezustand. Bei einem Flugzeugunglück starben damals der Präsident, seine Frau und viele hochrangige polnische Amtsträger. Das Ereignis wurde von den beiden großen Parteien unterschiedlich interpretiert, was zur Spaltung statt zur Einheit führte: Während es für die liberal-konservative Bürgerplattform PO lediglich ein Absturz war, sah die nationalkonservative Partei für Recht und Gerechtigkeit PIS darin einen Anschlag.

Für eine noch tiefere Kluft im politischen System und in der Gesellschaft sorgte die Auseinandersetzung über die Kontrolle des Verfassungsgerichts. Sie begann im Juni 2015 mit der politisierten Wahl von fünf neuen Verfassungsrichtern durch das ausscheidende PO-dominierte Parlament sowie rechtlichen Änderungen im Interesse der Partei. Nach zwei Jahren verfassungsrechtlicher Gestaltungsversuche wird das Verfassungsgericht jetzt von Richtern dominiert, die von der PIS eingesetzt wurden.

Der Kampf zwischen Legalität – einem wichtigen einheitsbildenden Mechanismus in normalen Zeiten – und Legitimität in anormalen Zeiten wird dennoch weitergehen. „Zivilisationsprozesse“ verlaufen nicht so linear, wie sich das die Befürworter eines vereinten Europas vorstellen. Sie sind mit Konflikten verbunden: zwischen vereinenden und auseinanderstrebenden Kräften, zwischen Befürwortern einer liberalen Modernität und schützenden Gegenbewegungen, die traditionelle Formen der Integration und Verantwortung bevorzugen.

Um die Verfassungskonflikte in Osteuropa besser zu verstehen, muss man also unterscheiden zwischen normalen Zeiten, in denen die Legalität die Hauptform der politischen und sozialen Integration ist, und Krisenzeiten, in denen die persönliche, die wertebasierte und die politische Legitimität über eine wirksamere Integrationskraft verfügt. Clinton Rossiter und Carl Schmitt haben argumentiert, dass eine konstitutionelle Diktatur und ein konstitutioneller Staatsstreich legitime Mittel sein können, um in Ausnahme- und Krisenzeiten die politische Einheit und letztlich die Demokratie aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen.

Die konservativen Regierungen in Polen und Ungarn setzen solche Mittel ein, um ihr republikanisches, konservatives Modell der Demokratie auf Grundlage einer nationalen Verfassungsidentität zu etablieren. Obwohl ihre Methoden aus legalistischer, abstrakter und positivistischer Perspektive fraglich sind, können sie dennoch eine wichtige Rolle spielen, um die politische Einheit, die Demokratie und den Geist der Rechtmäßigkeit zu schützen. Wenn die europäischen Aufsichtsbehörden auf abstrakten und universellen Legalitätsstandards beharren, untergraben sie die Bemühungen nationaler Regierungen, die Pathologien ihrer Justizsysteme, wirtschaftliche Krisen sowie die Migrations- und Sicherheitskrisen mittels alternativer Formen der politischen Integration zu bewältigen.

Brüssel könnte so nicht nur die Schaffung einer nationalen Einheit auf dem Wege historisch gewachsener nationaler Integrationsmaßnahmen verhindern. Es könnte auch das Bedürfnis nach alternativen Formen der Integration verstärken und so die Tür für charismatische Führungspersonen (Bonapartismus) oder informelle Netzwerke noch weiter öffnen. Ein wichtiger Schritt zur Lösung der großen Verfassungskrise in Europa wäre die Anerkennung der unterschiedlichen Wege politischer Einheitsbildung – einschließlich der verschiedenen Spielarten von Kapitalismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

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