Arbeiten an der Epochenschwelle – Als Zeithistorikerin unter Soziologen

Ariane Leendertz - Forscherinnenporträt

17. Februar 2018

Ariane Leendertz ist seit 2014 Forschungsgruppenleiterin am MPIfG. Mit einem Team aus Doktoranden und Postdoktoranden untersucht die Historikerin, wie sich seit den 1970er-Jahren jenseits der Wirtschaft ökonomische Kategorien, Selbstverständnisse, Zielsetzungen und Instrumente ausbreiteten und sich die Beziehungen zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft veränderten. Nicht nur auf die Vergangenheit erstreckt sich ihr Interesse an der Verschränkung von gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Als Mitglied des Senats der Max-Planck-Gesellschaft und Mitglied der Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaftlichen Sektion des Wissenschaftlichen Rates der Max-Planck-Gesellschaft ist sie beteiligt an den Reflexionen und Weichenstellungen einer großen und einflussreichen deutschen Wissenschaftsorganisation.

„Mein Karriereweg an dieses Institut ist ja etwas ungewöhnlich“, beginnt Ariane Leendertz das Gespräch über sich. Sie, die gelernte Historikerin mit dem Schwerpunkt Zeitgeschichte, an einem Institut, das Soziologen und Politologen versammelt, um die Gesellschaft zu erforschen. Zum Verständnis der Gesellschaft sind natürlich auch historische Entwicklungen wichtig, aber das Zusammenarbeiten der getrennten Disziplinen Sozial- und Geschichtswissenschaften scheint immer noch begründungspflichtig zu sein. Zu dem „ungewöhnlichen Karriereweg“ von Ariane Leendertz gehört freilich nicht nur ihre wissenschaftliche Disziplin: „Ich habe das Institut zuerst als historischen Forschungsgegenstand kennengelernt, bevor ich hier angefangen habe zu arbeiten.“ Zum 25-jährigen Bestehen des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung (MPIfG) sollte sie etwas zur Gründung des Instituts im Jahr 1984 schreiben.

Was als Auftrag zu einem ausführlichen Festschriftenbeitrag an eine externe Historikerin begann, hat sie in ein kleines Forschungsprojekt umgewandelt. Diese Freiheit habe sie sich genommen, meint sie selbstbewusst und fügt gleich hinzu, dass ihr Auftraggeber, der damalige Direktor Wolfgang Streeck, ihr auch diese Freiheit gewährt habe. Denn erstens war ihr schnell klar, dass die Gründung des Kölner Instituts nur zu verstehen war vor dem Hintergrund der Schließung des vormaligen Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt 1981; und zweitens sah sie beide Prozesse als Teil einer umfassenden Neuorientierung innerhalb der deutschen Sozialwissenschaften.

»Das Zusammenarbeiten der Disziplinen Sozial-und Geschichtswissenschaften scheint immer noch begründungspflichtig zu sein.«

In der deutschen Soziologie der 1970er-Jahre kann man ein gewisses Krisenbewusstsein wahrnehmen, das sich von optimistischen Erwartungen der Steuerbarkeit politischer Prozesse durch wissenschaftliche Expertise immer mehr verabschiedet hat. Statt politische Programme zu entwerfen und wissenschaftlich zu legitimieren, wurde die Komplexität der gesellschaftlichen Zusammenhänge betont, die sich einfachen Zugriffen zur Verbesserung oder Modernisierung entzogen. Dass Leendertz’ Thesen aufgingen, davon zeugt das Buch, das aus dieser Arbeit entstanden ist: Die pragmatische Wende: Die Max-Planck-Gesellschaft und die Sozialwissenschaften 1975–1985.

Wie aber kommt eine Historikerin dazu, derart in das Innere einer anderen Disziplin hineinzuschauen? Die eine Antwort gibt Leendertz ruhig lächelnd: Man müsse eben die historischen Quellen lesen; in diesem Fall: die Texte der Soziologen aus den 1970er-Jahren; wobei auch eine kluge Quellenauswahl zum Geschäft der Historikerin gehöre, um nicht in der Menge des Materials zu ertrinken. Angenehm selbstbewusst ist sie: Im Vertrauen auf die sichere Beherrschung der historischen Methoden kann sie auch den Soziologen noch Aufklärung über die Vorgänge in deren Fach geben.

Eine andere Antwort kann man darin finden, dass Leendertz geübt ist, sich Diskurse fremder Wissenschaften anzueignen: In ihrer Dissertation hat sie die Geschichte der deutschen Raumplanung untersucht von ihrem Beginn im 19. Jahrhundert bis zum Ende der 1970er-Jahre, geschrieben bei dem Tübinger Zeithistoriker Anselm Doering-Manteuffel. Der hat ihr zudem eine Forschungsthese mit auf den Weg gegeben: Zusammen mit Lutz Raphael hat Doering-Manteuffel in seinem Buch Nach dem Boom in den 1970er-Jahren einen Strukturwandel von revolutionärer Qualität ausgemacht: Viele gesellschaftliche Bereiche sind gegenüber der Hochmoderne, die seit den 1880er-Jahren prägend gewesen war, neu strukturiert worden. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts begann ein epochaler Wandel, eine Übergangszeit vergleichbar mit der sogenannten „Sattelzeit“, die der ehemalige Bielefelder Historiker Reinhart Koselleck in der frühen Neuzeit ausgemacht hat. Aber „epochaler Wandel“ sei ein großes Wort, so Leendertz, und man ahnt, dass große Worte bei der klar und ruhig argumentierenden Frau erstmal Nachfragen auslösen: Das müsse natürlich empirisch überprüft werden. Damit sei sie nun beschäftigt. Wobei sie schon zu erkennen gibt, dass sie die These von Doering-Manteuffel für fruchtbar und plausibel hält.

Seit 2012 ist sie am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung angestellt und seit 2014 ist sie hier Leiterin der Forschungsgruppe Ökonomisierung des Sozialen. Dabei hat sie, die zwischendurch auch am Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität in München tätig war, die USA im Blick. Die Entwicklungen in den USA seien noch kaum auf die These von Doering-Manteuffel und Lutz Raphael hin untersucht worden; aber gerade hier würden sich viele Bewegungen, die man in Westeuropa beobachtet habe, spiegeln, so Leendertz. Und so taucht ein Begriff, der schon für Die pragmatische Wende zentral war, wieder auf: der der Komplexität. Dass die Verhältnisse komplex sind, kann eine Banalität sein; es kann aber auch eine Zäsur markieren, wenn die Verhältnisse zu einem bestimmten Zeitpunkt als komplexer wahrgenommen werden als sie vordem erschienen sind, und Wissenschaftler daran arbeiten, Komplexität theoretisch zu erfassen.

Leendertz blickt in ihrem aktuellen Forschungsprojekt auf die Entwicklung der Sozialwissenschaften in den USA zwischen den 1960er- und 1970er-Jahren, als Komplexität zu einem neuen Thema avancierte. Aber man müsse die Sozialwissenschaften auch in ihrem zeitgenössischen Kontext wahrnehmen, erklärt die Historikerin: Die Wissenschaften reagierten auf gesellschaftliche Problemlagen und wirkten auf diese ein. Konkret geht es darum, dass der amerikanische Wohlfahrtsstaat, das Programm der Great Society, in eine Krise geriet: finanziell, weil der Vietnamkrieg Geld aus den Sozialprogrammen abzog; aber es wurden auch die Erfolge und damit die politische Legitimität der Programme von links wie von rechts angezweifelt. Das wirkte sich auf die Sozialwissenschaften aus, die die Konzepte für viele Programme geliefert hatten.

Die Erkenntnis, dass die Verhältnisse komplexer und nicht einfach durch politische Maßnahmen zu steuern seien, bewegte aber nicht nur die Sozialwissenschaften, sondern auch den politischen Diskurs. Leendertz sieht nun zwei mögliche Auswege aus der wahrgenommenen Krise: zum einen die Verfeinerung der Methoden, um besser auf das ausgemachte Steuerungsdefizit zu reagieren, und zum anderen die Verabschiedung von der Erwartung, dass der Staat für bestimmte Bereiche überhaupt Steuerungsmöglichkeiten hat. Letzteres sei in den USA dann politisch besonders wirksam geworden mit dem Regierungsantritt von Ronald Reagan zu Beginn der 1980er-Jahre: Der planende Sozialstaat habe sich aus immer mehr Bereichen zurückgezogen, der freie Markt sei zur dominanten Steuerungsinstitution geworden. Damit gehört die Komplexitätswahrnehmung auch zur Vorgeschichte des Aufstiegs des Neoliberalismus. Der war demnach nicht einfach nur das konservative Rollback, als das er oft dargestellt wird, sondern konnte sich durchaus als Antwort auf Probleme präsentieren, die auch von seinen Gegnern wahrgenommen wurden.

»Der Neoliberalismus konnte sich durchaus als Antwort auf Probleme präsentieren, die auch von seinen Gegnern wahrgenommen wurden.« 

Es ist faszinierend und spannend bei Leendertz zu lesen, welche Perspektiven sich aus der Untersuchung scheinbar weit entfernt liegender wissenschaftlicher Diskurse ergeben. Man merkt: Hier verbindet sich die akribische Arbeit der Historikerin mit einer Perspektive für das große Ganze, hier verfolgt eine Wissenschaftlerin bei allem Blick fürs Detail doch ein Programm, das noch lange nicht abgearbeitet ist. Und: Hier ist eine Historikerin am Werk mit besonderem Blick für die kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen. An der politischen Geschichte interessierte Historikerinnen und Historiker würden einen Epochenschnitt viel eher 1989/90 mit dem Zusammenbruch des Ostblocks sehen. Leendertz wägt sorgfältig ab: Die Epochenschwelle habe sicher in den 1970er-Jahren begonnen, aber man könne noch einmal eine gewisse Beschleunigung bei der Ökonomisierung des Sozialen ab den 1990er-Jahren feststellen. Dass sie damit eine wichtige Perspektive für die Soziologie und die Erforschung der gegenwärtigen Gesellschaften erschließt, liegt auf der Hand.

Wie die Soziologen haben die Historiker eigentlich Menschen als Untersuchungsgegenstand, auch wenn diese hinter Strukturen und überindividuellen Prozessen mitunter unsichtbar werden. Leendertz aber blüht im Gespräch auf, wenn sie von einem Menschen erzählen kann: Über den amerikanischen Politiker John Kerry hat sie ein dreiteiliges Portrait für das Fachportal zeitgeschichte-online geschrieben: Wie der Kriegsveteran und Anti-Vietnamkrieg-Aktivist, der 1971 eine weit beachtete Rede vor dem Senat hielt, zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten 2004 wurde. In seinem Lebenslauf spiegele sich die Bedeutung, die der Vietnamkrieg bis heute für die amerikanische Gesellschaft habe, sagt Leendertz. Also der Mensch nur als Exempel für eine Entwicklung? Nein, man müsse ihn sehen und hören, so Leendertz. Begeistert verweist sie auf die Videos der C-Span Video Library, des amerikanischen Parlamentsfernsehens, das alle Reden im Senat aufbewahrt und online zugänglich hält; etwas Vergleichbares fehle in Deutschland, moniert sie. Dort findet man nicht nur die Rede von 1971, sondern auch die Rede, die John Kerry vor der Invasion in den Irak 2003 gehalten hat. Kerry hat dem Kriegseinsatz damals zugestimmt. Aber nur wenn man seine Rede sehe und höre, so Leendertz, merke man, dass er eigentlich dagegen gewesen sei. Kerry habe sich in seinen öffentlichen Reden immer im Zwiegespräch mit seinem jüngeren Ich, dem Anti-Vietnamkrieg-Veteranen befunden, und Ariane Leendertz war sichtlich fasziniert, ihm dabei zuhören zu können.

Seit 2013 ist Leendertz auch Vertreterin der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MPIfG in der Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaftlichen Sektion der Max-Planck-Gesellschaft. Sascha Münnich, zu der Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPIfG, hatte sie damals als seine Nachfolgerin vorgeschlagen. „Die sagt frei raus, was sie denkt“, erinnert sich Münnich, der inzwischen Professor in Göttingen ist; sie habe sich auch zu Wort gemeldet, wenn sie Vorschläge der Direktoren nicht überzeugend gefunden habe. Selbstbewusstsein und der Blick von außerhalb der Soziologenwelt haben ihr da sicher geholfen. Und durch ihr Buch, fügt Münnich hinzu, habe sie auch gut verstanden, wie die Max-Planck-Gesellschaft funktioniere. Inzwischen wurde sie auch in den Senat, das höchste Entscheidungsgremium der Max-Planck-Gesellschaft, gewählt. Nach ungewöhnlichem Karriereweg, und vermutlich auch genau deswegen, ist sie nun mittendrin. Sie selber sagt über ihre Arbeit am MPIfG: „Ich habe hier meinen Traumjob.“ Aus der Grundfinanzierung heraus forschen zu können, ermögliche eine große Freiheit.

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