Eine Tafel zeigt einen Familienstammbaum. Eine Person steht davor und folgt die Linien des Stammbaums mit der Hand.

Wo Reichtum herkommt – und bleibt 

Daria Tisch

11. Dezember 2025

Reichtum in Deutschland ist stark konzentriert – und oft tief in der Geschichte verwurzelt. Einige der größten Privatvermögen sind bis heute im Besitz von Familien, die schon vor über 100 Jahren Teil der ökonomischen Elite waren. Dieser dynastische Reichtum, der politische Umbrüche, Weltkriege und wirtschaftliche Krisen überdauert hat, wirft grundlegende Fragen nach Chancengleichheit, Machtverhältnissen und der Rolle von Erbschaften auf.

In Deutschland konzentrieren sich die größten Vermögen auf wenige Familien. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schätzt: Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung besitzen etwa 67 Prozent des gesamten Privatvermögens. Das reichste Prozent hält rund 35 Prozent, während die allerreichsten 0,1 Prozent sogar bis zu 20 Prozent auf sich vereinen. Gleichzeitig verfügt rund die Hälfte der Bevölkerung über kaum oder gar keine finanziellen Rücklagen – viele Menschen sind sogar verschuldet. Diese gravierende Ungleichverteilung hat zur Folge, dass Vermögen für verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Funktionen hat. Für Menschen mit wenig finanziellen Mitteln dient es in erster Linie als Altersvorsorge oder als Polster für schwierige Zeiten. Wer mehr besitzt, kann sich davon praktische Güter leisten, wie Wohneigentum oder ein Auto. Vermögen ermöglicht außerdem gesellschaftliche Teilhabe, zum Beispiel durch Ausgaben für Freizeitaktivitäten und Bildung. Je weiter oben in der Vermögensverteilung, desto größer ist auch die Transferfunktion von Vermögen: Eltern können es als Schenkung oder Erbschaft direkt an ihre Nachkommen weitergeben und ihnen bessere Startchancen im Leben verschaffen – etwa beim Erwerb von Wohneigentum, der Finanzierung von Ausbildung oder der Gründung eines Unternehmens. Für die Reichsten der Gesellschaft bedeutet Vermögen schließlich nicht nur Sicherheit oder Lebensqualität, sondern vor allem Einfluss: Es verschafft ökonomische Macht und häufig gesellschaftlichen sowie politischen Gestaltungsspielraum.

»Reichtum bedeutet Einfluss: Er verschafft ökonomische Macht und politischen Gestaltungsspielraum.«

Wer Hunderte Millionen Euro besitzt, kontrolliert oft Unternehmen und ent­scheidet damit auch über Tausende Arbeitsplätze. Superreiche prägen durch Spenden, Lobbyarbeit oder eigene Medienunternehmen die öffentliche Meinung und üben Druck auf die Politik aus. Ihr umfangreicher Immobilienbesitz verschafft ihnen zusätzlichen Einfluss: Durch ihre Investitionsstrategien gestalten sie die Entwicklung von Städten mit, bestimmen Mietpreise und suchen aus, wer ihre Wohnungen mieten darf.

Die Soziologen Aaron Reeves und Sam Friedman argumentieren in ihrem aktuellen Buch Born to Rule, dass der soziale Hintergrund der Elite ausschlaggebend dafür ist, wie sie auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einwirkt. Dabei geht es nicht nur um die Superreichen der Gegenwart. Eliten prägen über Jahrzehnte hinweg die politischen und gesellschaftlichen Spielregeln – Regeln, die große Vermögen schützen und die gegenwärtige Ungleichheit zementieren. Deshalb stellt sich die Frage: Welche historischen Wurzeln haben Deutschlands größte Vermögen?

Die Wurzeln heutiger deutscher Spitzenvermögen

Verlässliche Informationen über Superreiche sind allerdings schwer zu bekommen. Zum einen sind sie in sozialwissenschaftlichen Befragungen stark unterrepräsentiert, zum anderen verhalten sich Superreiche bei finanziellen Themen noch zurückhaltender als der übrige Teil der Bevölkerung. Um nicht nur auf Umfragen angewiesen zu sein, nutzen Forschende seit einigen Jahren sogenannte Reichenlisten, um große Vermögen wissenschaftlich zu untersuchen. Diese erstellen meist Medienhäuser. Sie beruhen auf journalistischen Recherchen in Archiven und Handelsregistern sowie auf Gesprächen mit Vermögensverwaltern und Anwälten. In Deutschland veröffentlicht das Manager Magazin regelmäßig solche Verzeichnisse. 2019 erschien eine der bislang umfangsreichsten Aufstellungen: die reichsten 1.032 Familien. 

»Superreiche äußern sich zu finanziellen Themen noch zurückhaltender als die restliche Bevölkerung.«

Für die Untersuchung der deutschen Vermögenselite können wir zusätzlich auf Reichenlisten von vor über 100 Jahren zurückgreifen. Rudolf Martin, ein ehemaliger preußischer Beamter, veröffentlichte von 1911 bis 1914 Jahrbücher, in denen er Namen, Adressen, Einkommen und Vermögen der deutschen Millionäre dokumentierte. Während das aktuelle Vermögensranking auf ausführlichen Recherchen und Schätzungen beruht, konnte Rudolf Martin auf Zahlen der amtlichen Steuerstatistik zurückgreifen. Insgesamt führte er über 4.500 Personen auf, die über 2 Millionen Reichsmark besaßen. Dies entspricht ungefähr den reichsten 0,01 Prozent der damaligen Bevölkerung. Die Veröffentlichung dieser Aufstellung löste damals einen Skandal aus – schließlich gewährten sie erstmals Einblicke in die ökonomische Elite, wie die Historikerin Eva Maria Gajek in ihrer Forschung zeigt.

Erstaunliche Kontinuität trotz historischer Umbrüche

In einer meritokratischen Gesellschaft sollte sich die Zusammensetzung der ökonomischen Elite im Laufe von 100 Jahren stark verändern: Reich werden jeweils diejenigen, die über besondere Fähigkeiten verfügen, die größten Risiken eingehen oder die erfolgreichsten Innovationen hervorbringen. Für Deutschland würde man zudem erwarten, dass sowohl die beiden Weltkriege als auch die politischen Umbrüche und wirtschaftlichen Krisen des 20. Jahrhunderts bestehende Vermögen zerstört haben. Selbst ein einziger Nachfahre von Mitgliedern der Reichenliste von 1912 im aktuellen Ranking wäre statistisch bemerkenswert. Doch die Realität sieht anders aus: Etwa 8 Prozent der 1.032 größten Privatvermögen unserer Zeit lassen sich auf Reichtum zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zurückführen. Mit anderen Worten: Die Vorfahren von 82 Familien, die im aktuellen Verzeichnis stehen, gehörten bereits 1912 zu den allerreichsten Deutschen. Diese historische Kontinuität zeigt sich auch in umgekehrter Richtung: Von den ungefähr 4.500 reichsten Personen Anfang des 20. Jahrhunderts haben mindestens 5 Prozent Nachfahren auf der aktuellen Reichenliste. Noch erstaunlicher: Von den 884 reichsten Personen von damals – diejenigen, die über 6 Millionen Reichsmark besaßen – haben sogar rund 10 Prozent Nachkommen, die gegenwärtig zu den reichsten 0,01 Prozent gehören. Die restlichen 90 Prozent sind natürlich auch nicht zwingend verarmt, sie haben es nur nicht auf das 2019er Ranking der Superreichen geschafft. Diese Beständigkeit erscheint erstaunlich hoch angesichts der historischen Umbrüche, die Deutschland in diesem Zeitraum geprägt haben: zwei Weltkriege, der Holocaust sowie die systematische Enteignung jüdischen Eigentums, Wirtschaftskrisen, mehrere Währungsreformen und Regimewechsel.

»Etwa 8 Prozent der größten Privatvermögen unserer Zeit lassen sich auf Reichtum zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zurückführen.«

Auch die Gründungsjahre der Unternehmen verraten etwas über die Wurzeln derzeitiger superreicher Familien. Abbildung 1 zeigt, dass über ein Drittel der Unternehmen, die hinter den 1.032 größten Vermögen stehen, bereits vor dem Ersten Weltkrieg gegründet wurden. Manche waren damals schon erfolgreich. August Oetker zählte dank seiner erfolgreichen Vermarktung des Backpulvers bereits 1912 zu den reichsten Personen. Seine Nachfahren sind noch immer auf der Reichenliste vertreten und das Unternehmen längst weit über das Backpulver hinaus bekannt. Andere Unternehmen hingegen erzeugten damals noch keinen großen Reichtum. Das Unternehmen der Familie Deichmann etwa, inzwischen einer der größten Schuhhändler Europas, geht auf einen Schuhmacherladen zurück, der bereits 1913 eröffnet wurde. Obwohl die Familie damals noch nicht reich war, legte Heinrich Deichmann den Grundstein für den späteren Aufstieg zu einer der reichsten Unternehmerfamilien.

Die Familie als Bollwerk des Reichtums 

Die Familie spielt eine wichtige Rolle bei der Kontinuität von großen Vermögen. Neben direkten Vermögensübertragungen zwischen Generationen gibt es noch einen weiteren Mechanismus: Durch Heirat entstehen strategische Allianzen zwischen Vermögensdynastien – eine Art der Sicherung des Reichtums, die schon vom Adel gerne genutzt wurde.

Auch wenn moderne Ehen meist nicht rein strategisch geschlossen werden, ist eine Partnerwahl innerhalb der gleichen sozialen Schicht („Heirats-Homogamie“) in den obersten Gesellschaftsschichten besonders verbreitet. Das verstärkt die Vermögensungleichheit zusätzlich. Selbst unter den vermögendsten 0,01 Prozent lassen sich Heiratslinien zwischen Familien finden. Abbildung 2 veranschaulicht die generationenübergreifende Vernetzung einiger Mitglieder der damaligen und heutigen Reichenlisten. Die Verbindungslinien zeigen Verwandtschaftsbeziehungen; blaue Punkte markieren Personen auf der Reichenliste von 1912, rote Punkte Personen auf der aktuellen Reichenliste. In einer offenen Gesellschaft mit zufälligen Heiraten entstehen solche Familiennetzwerke nicht. Ein derart überzufälliges Netzwerk deutet deshalb auf soziale Schließung hin.

Folgen dynastischer Vermögensweitergabe 

Die dynastische Weitergabe großer Vermögen in Deutschland trägt zur lang­fristigen Konzentration wirtschaftlicher Ressourcen in wenigen Familien bei. Durch vererbte Privilegien und exklusive Netzwerke verfestigen sich bestehende Machtstrukturen. Diese Dynamiken wirken sich nicht nur auf soziale Ungleichheiten im Allgemeinen, sondern auch auf geschlechterspezifische Ungleichheiten aus. Weitere Forschung am MPIfG zeigt nämlich: Väter geben große Vermögen, insbesondere Unternehmensanteile, häufiger an ihre Söhne als an ihre Töchter weiter. Dadurch verstärken sich bestehende Unterschiede zwischen Männern und Frauen in Bezug auf Vermögen und wirtschaftlichen Einfluss weiter.

Deshalb diskutieren Wissenschaft und Politik verschiedene Reformansätze. Dazu gehören zwei zentrale Instrumente: die Einführung oder Reaktivierung einer Vermögenssteuer sowie eine Überarbeitung der Erbschafts- und Schenkungssteuer. Laut MPIfG-Forschung lehnt die Mehrheit der deutschen Bevölkerung zwar die Erbschaftssteuer ab, steht aber einer Steuer auf hohe Privatvermögen positiv gegenüber – solange sie nicht selbst davon betroffen ist.

Deutschlands Spitzenvermögen sind also historisch verwurzelt. Das verdeutlicht: Ökonomische Ungleichheiten entstehen nicht nur im Hier und Jetzt, sondern schreiben sich über Generationen fort. Um die dahinterliegenden Mechanismen besser zu verstehen und fundierte politische Antworten zu entwickeln, muss die Wissenschaft hier systematisch ansetzen – insbesondere bei den bislang wenig sichtbaren Verbindungen zwischen Vermögen und gesellschaftlicher Macht in Deutschland.

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