Die deutsche Bevölkerung lehnt Eurobonds nicht grundsätzlich ab
Lucio Baccaro, Björn Bremer, Erik Neimanns
Zehn Jahre nach Beginn der Griechenlandkrise ist die Covid-19-Pandemie die größte Herausforderung für Europas Volkswirtschaften seit der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre. Nach Angaben der OECD steuert das Bruttoinlandsprodukt in vielen Ländern gerade auf einen Rückgang von 20 bis 25 Prozent zu. Obwohl das Coronavirus alle Länder gleichermaßen betrifft, sind seine fiskalischen Auswirkungen sehr unterschiedlich. Länder wie Deutschland und die Niederlande haben einen größeren finanzpolitischen Spielraum als Länder wie Italien und Spanien, die ihre Staatsschulden nicht erhöhen können, ohne dass die Zinssätze ihrer Staatsanleihen in die Höhe schnellen.
Eigentlich verfügt die Eurozone über einen Auffangmechanismus für derartige Situationen, den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Gemäß ESM-Vertrag, der aus der Zeit der Eurokrise stammt, müssten Italien und Spanien zunächst ein Rettungsprogramm aushandeln und Kredite erhalten, die an Haushaltskürzungen und Strukturreformen gebunden wären. Sollten sich diese ESM-Kredite als unzureichend erweisen, würde die Europäische Zentralbank (EZB) so lange Staatsanleihen der betroffenen Länder kaufen, bis die internationalen Finanzmärkte sich beruhigen. Auch wenn unter den gegenwärtigen Umständen die Auflagen des Rettungsprogramms verhältnismäßig milde ausfallen würden, ist nicht ausgeschlossen, dass zu einem späteren Zeitpunkt weitere Auflagen hinzukommen, als Antwort auf den erwarteten starken Anstieg der Staatsverschuldung.
Es überrascht daher nicht, dass die italienische und die spanische Regierung mit Blick auf die drohenden Auflagen vor ESM-Programmen zurückschrecken. Zu frisch ist die Erinnerung daran, dass Europa Griechenland im Zuge der „Rettung“ jahrelang in den Würgegriff genommen hat. Das ist der Grund, warum neun Länder der Eurozone und viele Ökonomen für die Vergemeinschaftung von europäischen Staatsschulden plädieren, um den am schwersten betroffenen Ländern zusätzlichen fiskalischen Spielraum zu verschaffen.
Die Idee, „Eurobonds“ (oder in ihrer neuesten Gestalt: „Coronabonds“) einzuführen, gab es in der Vergangenheit schon mehrfach, aber sie stieß immer auf den heftigen Widerstand der nordeuropäischen Länder. Vor allem deutsche Politikerinnen und Politiker argumentierten, dass sie Eurobonds nicht zustimmen könnten, da ihre Wählerinnen und Wähler sie entschieden ablehnten.
Aber ist das tatsächlich der Fall? Der Mangel an Solidarität, den die EU in ihrer Reaktion auf die Coronavirus-Pandemie gezeigt hat, könnte die Zustimmung der italienischen Bevölkerung zum Euro so tiefgreifend verändern, dass die Regierung einen Austritt aus der Währungsunion ernsthaft erwägen könnte. Ist dies den deutschen Wählerinnen und Wählern tatsächlich nicht bewusst?
Um diese Frage zu beantworten, haben wir in den vergangenen Tagen in Deutschland eine große Umfrage mit 4.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführt. Die einzelnen Personen erhielten verschiedene, nach dem Zufallsprinzip zugewiesene Arten von Informationen. Ein Basisszenario, in welchem sich die Situation in Italien zu einer Finanzkrise zuspitzt, ähnlich der Lage in Griechenland 2015, und in dem Italien den Ausstieg aus dem Euro erwägt, wurde mit Informationen angereichert, die einen Einfluss auf die Interpretation der Ereignisse haben könnten.
Einige Befragte bekamen die Information, dass der Grund für die gestiegene italienische Staatsverschuldung die Coronakrise ist: ein gesundheitlicher Notstand, der sich der Kontrolle der Regierung entzieht. In anderen Fällen bekamen die Befragten den Hinweis, dass ein Ausstieg Italiens aus dem Euro zum Zusammenbruch der Währungsunion führen und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportindustrie gefährden könnte. Weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden auf die möglichen Kosten für Deutschland aufmerksam gemacht, wenn eine Vergemeinschaftung der Schulden notwendig würde, um Italien im Euro zu halten.
Im Anschluss fragten wir, wie die deutsche Bundesregierung auf eine solche Krise reagieren sollte, in welcher Italien nicht mehr in der Lage oder bereit ist, im Austausch gegen ein Rettungsprogramm harte Sparmaßnahmen umzusetzen. Die Befragten konnten entscheiden, ob die Bundesregierung den Ausstieg Italiens aus dem Euro verhindern oder zulassen sollte.
Die Ergebnisse zeigen, dass die deutsche Wählerschaft klar gegen einen Austritt Italiens ist. In der Kontrollgruppe, also ohne zusätzliche Informationen, ist eine relative Mehrheit für den Verbleib Italiens im Euro. Werden die Befragten über die Kosten des „Italexit“ für Deutschland informiert, hat dies einen starken Effekt auf die Präferenzen und führt zu einer klaren absoluten Mehrheit gegen einen Austritt. Gibt es einen zusätzlichen Verweis auf die Coronakrise als Grund für das hohe Defizit Italiens, so sprechen sich fast 60 Prozent der Deutschen dafür aus, dass Italien im Euro bleibt. Die möglichen Kosten einer Vergemeinschaftung von europäischen Staatsschulden, die anfallen könnten, um Italien im Euro zu behalten, haben dagegen einen weitaus geringeren Effekt auf die Zustimmung zu einem Austritt Italiens.
Die Befragten sollten außerdem angeben, welches von zwei Szenarien sie bevorzugen: Deutschland und andere europäische Regierungen stimmen der Vergemeinschaftung der Schulden nicht zu und Italien tritt aus dem Euro aus; oder Deutschland und andere europäische Regierungen stimmen der Vergemeinschaftung der Schulden zu und Italien bleibt im Euro.
Angesichts der Tatsache, dass beide Szenarien für Deutschland kostspielig sind, ist die öffentliche Meinung in dieser Frage stark gespalten: Ohne zusätzliche Informationen ist eine relative Mehrheit von etwa 40 Prozent für den Italexit, wobei der Anteil Unentschlossener mit mehr als 20 Prozent relativ groß ist. Zusätzliche Informationen zu den Kosten eines Italexit haben erneut einen größeren Einfluss auf die Präferenzen als Informationen zu den Kosten von Eurobonds. Bekommen die Befragten die gesamten Informationen, sprechen sich fast 50 Prozent der deutschen Wählerinnen und Wähler für Eurobonds aus, während weniger als 35 Prozent dagegen sind.
Alles in allem deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die deutsche Öffentlichkeit der Vergemeinschaftung von Schulden offener gegenübersteht, als deutsche Politikerinnen und Politiker dies häufig annehmen. Für die Wählerschaft ist die Akzeptanz von Euro- oder Coronabonds vor allem eine Frage des Eigeninteresses: Sie will die Kosten eines Italexits für Deutschland vermeiden. Die Solidarität mit der Notlage Italiens infolge der Coronakrise spielt eine geringere, wenn auch nicht zu vernachlässigende Rolle.
Die deutschen Bürgerinnen und Bürger sind also bereit, eine gemeinsame Haftung für Schulden in Betracht zu ziehen, wenn dies für den Erhalt des Euro erforderlich ist. Ist die Androhung, dass Italien aus dem Euro austreten könnte, glaubwürdig? Daten aus einer Umfrage, die wir zur gleichen Zeit in Italien durchgeführt haben, deuten darauf hin, dass die italienische Wählerschaft tatsächlich an einem Punkt angelangt ist, an dem sie den Italexit als eine ernsthafte Option ansieht. Die deutsche Politik täte gut daran, sich mehr über die politischen Folgen der gegenwärtigen Krise in Italien Sorgen zu machen, als die politischen Gegner von Eurobonds in Deutschland starkzureden.
Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln
9. April 2020