Wie soll Wirtschaft wachsen? Politische Wachstumsstrategien nach Krisen

Wie soll Wirtschaft wachsen? Politische Wachstumsstrategien nach Krisen

Arianna Tassinari

17. Mai 2022

Wirtschaftswachstum ist eine Grundvoraussetzung für die Stabilität und Legitimität kapitalistischer Ökonomien. Da zwischen den einflussreichsten Eliten ein impliziter Konsens über die aus ihrer Sicht wünschenswerten wirtschaftspolitischen Maßnahmen herrscht, gibt es zu Entscheidungen über Wachstumsstrategien in der Regel keinen politischen Wettstreit. Die Politik der Wachstumsmodelle vollzieht sich in normalen Zeiten in der Regel unbemerkt. Jedoch können dramatische Ereignisse und Wirtschaftskrisen diesen Konsens ins Wanken bringen und offene politische und parteipolitische Auseinandersetzungen mit unter Umständen deutlichen Kurswechseln auslösen.

Wirtschaftswachstum steht in allen kapitalistischen Ökonomien im Zentrum des öffentlichen Interesses. Eine schlechte Konjunktur bereitet Bürgerinnen und Bürgern Sorgen und schadet dem Vertrauen in die Regierung. Gewählte Politikerinnen und Politiker müssen fürchten, bei den nächsten Wahlen abgestraft zu werden. Gleichzeitig werden politische Entscheidungen häufig mit dem Argument begründet, dass sie sich langfristig positiv auf das Wirtschaftswachstum auswirken. Kurz gesagt: Wachstum hat in kapitalistischen Ökonomien einen zentralen Stellenwert als politische Zielsetzung, als diskursives Mittel zur Legitimierung politischer Weichenstellungen und auch als „Kitt“, der die Gesellschaft zusammenhält, indem er den Kapitalismus in Gang hält und damit Wohlstand sichert.

Obwohl das allgemeine Interesse an einem Wachstum der Wirtschaft hoch ist, ist oftmals unklar, wie ein solches Wachstum entstehen soll. Wer entscheidet über die konkreten politischen Strategien, die ein Land zur Konjunkturbelebung verfolgt? Inwieweit machen sich Bürger- und Wählerschaft jemals näher Gedanken über die Wachstumsmodelle, die den Kurs ihres Landes bestimmen? Haben sie klare Vorstellungen von den Politikbereichen, die das Wachstumsstreben ihrer Volkswirtschaften lenken sollen? Oder werden diese Entscheidungen außerhalb unserer demokratischen politischen Strukturen gefällt? Derartige Fragestellungen zur Politik der Wachstumsmodelle stehen seit 2018 im Fokus des von MPIfG-Direktor Lucio Baccaro geleiteten Projektbereichs „Politische Ökonomie“.

Wachstumsmodelle als strukturelle Merkmale von Volkswirtschaften

Der Wachstumsmodellansatz in der Politischen Ökonomie geht von der empirischen Beobachtung aus, dass sich kapitalistische Volkswirtschaften in ihren Maßnahmen zur Förderung des Wirtschaftswachstums voneinander unterscheiden – insbesondere hinsichtlich des Ursprungs der Wachstumsimpulse, der Treiber für die gesamtwirtschaftliche Nachfrage.

Die Hauptvarianten sind das lohnorientierte Wachstum, bei dem ein Lohnzuwachs bei gleichzeitiger Steigerung der Produktivität zu einem Anstieg der Konsumausgaben der Haushalte und der Investitionen führt. Bis in die 1970er-Jahre hat dieses Modell die Mehrzahl der westeuropäischen Ökonomien geprägt, ist seitdem jedoch rückläufig. Das exportorientierte Wachstum beruht auf der Auslandsnachfrage und dem Exportsektor als wichtigsten Wirtschaftsmotoren. Ein typisches Beispiel für ein solches Modell ist die deutsche Volkswirtschaft. Bis zur Finanzkrise 2008/2009 war das kreditorientierte Wachstum, bei dem nicht die Löhne, sondern das Angebot an Konsumentenkrediten für private Haushalte die Binnennachfrage beeinflusst, das in Großbritannien und Spanien vorherrschende Modell. Darüber hinaus ist es auch möglich, dass ein Land über keinerlei prägende Wachstumsmotoren verfügt und in eine langanhaltende Stagnation gerät. Italien ist ein Beispiel für ein solches Szenario.

»Kapitalistische Volkswirtschaften unterscheiden sich in ihren Strategien zur Förderung des Wirtschaftswachstums.«

Wachstumsmodelle sind gewissermaßen strukturelle Merkmale einer Volkswirtschaft, die zumindest kurzfristig nicht durch politische Entscheidungen beeinflusst werden. Sie ändern sich nur langsam und werden von vielen Faktoren beeinflusst. Dennoch sind sie alles andere als naturgegeben. Wachstumsmodelle lassen sich zum einen auf wirtschaftliche Strukturen zurückführen, zum anderen werden sie durch politische Entscheidungen gefestigt, die die nötigen Rahmenbedingungen für ein nachhaltiges Wachstum schaffen und Unternehmen und Beschäftigte in ausgewählten Wirtschaftssektoren unterstützen und begünstigen. In wissenschaftlichen Studien zu Wachstumsmodellen werden derartige Maßnahmen als Wachstumsstrategien bezeichnet. Durch den Einsatz verschiedener Wachstumsstrategien können sich die Eigenschaften eines Wachstumsmodells mit der Zeit ändern. Diese Strategien umfassen unter anderem Maßnahmen in den Bereichen Geld- und Steuerpolitik, Struktur- und Verteilungspolitik, Sozialpolitik sowie Lohn- und Arbeitsmarktpolitik. Beispielsweise beruhte der Erfolg des deutschen Wachstumsmodells über lange Jahre auf politischen Weichenstellungen und Institutionen, die eine Lohnzurückhaltung favorisierten. Dies sowie das durch die Mitgliedschaft in der Eurozone garantierte System fester Wechselkurse wiederum waren vorteilhaft für die Wettbewerbsfähigkeit von Exporten.

Wachstumsmodelle werden von stabilen klassenübergreifenden Koalitionen gestützt

Allgemein werden politische Entscheidungen als das Ergebnis der Auseinandersetzungen und Konfrontationen über die Schlüsselthemen, über die die Parteien miteinander konkurrieren, betrachtet. Entsprechend wäre anzunehmen, dass in politischen Grabenkämpfen und im Wahlkampf auch über Wachstumsstrategien gestritten wird. Letztlich hat die Frage, wie – und nicht nur wie stark – sich das Wachstum in einem Land entwickelt, einen wesentlichen Einfluss auf die Verteilung von Kapital und Wohlstand. Und doch weisen wissenschaftliche Studien darauf hin, dass dies nicht immer der Fall sein muss. Die Frage, wie Wachstum entsteht, wird in der Regel nicht in öffentlichen Debatten oder politischen Auseinandersetzungen erörtert.

In Ländern mit funktionsfähigen und etablierten Wachstumsmodellen werden politische Entscheidungen im Zusammenhang mit diesen Modellen nur in wenigen Fällen bewusst von den Parteien als Wahlkampfthema eingesetzt. Vielmehr nähern die Parteien ihre Positionen zu den wesentlichen politischen Zielsetzungen, auf denen die Tragfähigkeit eines Wachstumsmodells beruht, mit der Zeit einander an. Ihre Auseinandersetzungen beziehen sich zumeist auf andere Themenbereiche, die weniger Einfluss auf die Funktionsweise des Wachstumsmodells haben. Beispielsweise wurde in Deutschland zu keinem Zeitpunkt eine offene politische Auseinandersetzung über die Mitgliedschaft in der Eurozone geführt, und auch keine Partei in Deutschland würde einen politischen Kurs unterstützen, der explizit der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Exporte von Industrieerzeugnissen schadet. Worauf ist dies zurückzuführen?

Die Politökonomen Mark Blyth, Jonas Pontusson und Lucio Baccaro stellen in ihrem neuen Sammelband „Diminishing Returns: The New Politics of Growth and Stagnation“ (OUP, im Erscheinen) unter anderem die Hypothese auf, dass die Funktionsfähigkeit von Wachstumsmodellen auf dem Vorhandensein einer klassenübergreifenden Koalition beruht – ein Zusammenschluss gesellschaftlicher Akteure, der die Kluft zwischen Arbeit und Kapital überwindet und all diejenigen Gruppen der Gesellschaft einbezieht, die de facto zu den „Gewinnern“ eines Wachstumsmodells gehören. Diese Akteure gehören zu den Hauptunterstützern von politischen Weichenstellungen, die den Fortbestand eines bestimmten Wachstumsmodells garantieren. Einer solchen Koalition können mehr oder weniger organisierte Interessengruppen aus Schlüsselsektoren der Wirtschaft angehören: wirtschaftliche Eliten, Unternehmen und Arbeitgeberverbände, aber auch Beschäftigte, die von den Erfolgen in wirtschaftlich bedeutsamen Sektoren profitieren, sowie Regierungsmitglieder, die einen reibungslosen Betrieb der Volkswirtschaft gewährleisten wollen.

»Außerhalb von Krisenzeiten sind Wachstumsmodelle kein Wahlkampfthema.«

Es wird daher vermutet, dass sich die etablierten politischen Parteien außerhalb von Krisenzeiten um den Fortbestand des bestehenden Wachstumsmodells bemühen, indem sie die zentralen makroökonomischen Weichenstellungen bewusst nicht zum Wahlkampfthema machen oder für politische Auseinandersetzungen nutzen. Gleichzeitig wollen sie möglichst viele Wählerinnen und Wähler für sich gewinnen – etwa durch eine Kompensationspolitik, die Erleichterungen für jene Gruppen in der Gesellschaft vorsieht, die nicht direkt von den Auswirkungen des Wachstumsmodells profitieren. Die Einführung des Mindestlohns in Deutschland im Jahr 2015 könnte als ein solcher Versuch gewertet werden. Die politische Tragfähigkeit des exportorientierten Modells in Deutschland würde demnach durch materielle Zugeständnisse gegenüber Arbeitskräften in den Dienstleistungssektoren, die seit Mitte der 1990er-Jahre unter einer fortgesetzten Lohnzurückhaltung gelitten haben und keinen unmittelbaren Nutzen aus den Erfolgen des Exportsektors ziehen konnten, gefestigt werden.

Krisen bringen etablierte Koalitionen aus dem Gleichgewicht

Doch nicht immer können Wachstumsstrategien aus dem politischen Wettstreit und der politischen Auseinandersetzung ausgeklammert werden. Nach schweren Wirtschaftskrisen können öffentlicher Protest, Unsicherheit und entgegengesetzte politische Positionen auch in den normalerweise ruhigen und geschützten Gewässern der geräuschlosen Politik der Wachstumsmodelle für heftigen Wellengang sorgen. Krisen können das Gleichgewicht selbst gut etablierter klassenübergreifender Koalitionen erschüttern und als kritische Wendepunkte wirken, die den Kurs der Wachstumsstrategien unter Umständen dramatisch verändern.

Wie ist das möglich? Hier gibt es verschiedene Mechanismen. Im Fall eines Wandels von innen heraus können Krisen Probleme, Widersprüche und Fehlfunktionen eines bestimmten Wachstumsmodells für die Öffentlichkeit sichtbar machen. Während die Gruppe der Akteure, die von einem bestimmten Wachstumsmodell profitiert, in Krisenzeiten deutlich kleiner wird, nimmt die der Verlierer deutlich zu. Unter unzufriedenen Wählerinnen und Wählern können Forderungen nach einem wirtschaftspolitischen Kurswechsel laut werden, die Parteien außerhalb der typischen Regierungskoalitionen aufgreifen. Mit der Zeit könnten dann sogar etablierte Parteien ihre bestehenden wirtschaftspolitischen Paradigmen anpassen. Bisher tonangebende Branchenakteure könnten gegenüber neuen aufstrebenden Branchen an Terrain verlieren, wodurch sich das Machtgefüge innerhalb der bestehenden klassenübergreifenden Koalitionen verschiebt.

Veränderungen können auch durch Kräfte außerhalb des innenpolitischen Einflussbereichs angestoßen werden. So können politische Entscheidungen, zu denen sich Länder durch Interventionen externer Akteure gezwungen sehen – etwa als Gegenleistung für externe Finanzhilfen oder bedingt durch die Regelsetzung auf europäischer Ebene –, die Tragfähigkeit eines bestehenden Wachstumsmodells infrage stellen.

Ein sehr passendes Beispiel für das Zusammenspiel dieser beiden Ursachen für eine Anpassung der Wachstumsmodelle bot die spanische Wirtschaft nach der großen Finanzkrise der Jahre 2008/2009. Im Zuge dieser Krise platzte die Immobilienblase, die durch eine rasante Zunahme der Kredit- und Hypothekenfinanzierungen ausgelöst worden war. Diese wiederum hatten die Leistungsfähigkeit der spanischen Wirtschaft im zurückliegenden Jahrzehnt gesichert. Der Zusammenbruch der Bauwirtschaft hatte eine vollständige Neugewichtung der Wirtschaftssektoren in Spanien, einen drastischen Anstieg der Arbeitslosenzahlen und eine wachsende öffentliche Verschuldung zur Folge. Die EU-Behörden drängten Spanien zu tiefgreifenden und schmerzhaften politischen Reformen, darunter eine beispiellose Liberalisierung des Arbeitsmarktes zur Neuausrichtung der Wirtschaft auf Exporte. All dies zielte auf eine spürbare Senkung der Löhne sowie die damit einhergehende Steigerung der externen Wettbewerbsfähigkeit des spanischen Exportsektors ab. Diese erzwungene Neuausrichtung auf Exporte gab einen wichtigen Impuls für die Konjunkturbelebung in Spanien seit 2015. Allerdings begünstigte sie auch die Entwicklung prekärer Arbeitsverhältnisse und die Ausweitung von Niedriglöhnen.

Die Veränderung des spanischen Wachstumsmodells wird nach wie vor von anhaltender politischer Instabilität begleitet. Die Unzufriedenheit der Verlierer der Krise angesichts sinkenden Lebensstandards, Arbeitslosigkeit, Sparmaßnahmen und Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt hat die spanische Parteienlandschaft verändert. Neue politische Kräfte wie die linke Protestpartei Podemos konnten die Zahl ihrer Anhängerinnen und Anhänger deutlich steigern. Im Jahr 2019 gelang es Podemos schließlich, eine Koalitionsregierung mit der mitte-links stehenden Sozialistischen Partei (PS) zu bilden. In der Regierung setzt sich Podemos für die Forderungen der Gewerkschaften und der „Verlierer“ innerhalb der spanischen Wirtschaft ein, die sich gegen das System der Niedriglöhne und prekären Arbeitsverhältnisse positionieren, auf das sich die Konjunkturbelebung und die erzwungene Strukturanpassung zugunsten des Exportsektors stützten. Entsprechend setzt die Regierung aus PS und Podemos auf politische Strategien, die ausdrücklich auf eine Anhebung der Löhne ausgerichtet sind. Sie umfassen eine spürbare Anhebung des Mindestlohns und eine Arbeitsmarktreform, die auf eine Stärkung sektorspezifischer Tarifverhandlungen und die Förderung von dauerhaften anstelle von befristeten Arbeitsverhältnissen abzielt. Diese Maßnahmen stehen für eine grundsätzliche Abkehr von den zentralen Merkmalen der exportorientierten Wachstumsstrategien der Vorgängerregierungen und sollen die Binnennachfrage und die Kaufkraft der Haushalte durch Lohnerhöhungen stärken. Infolgedessen lässt sich heute keine stabile wachstumsorientierte Koalition erkennen. Stattdessen gibt es weiterhin politische Auseinandersetzungen darüber, welche Rahmenbedingungen einen wirtschaftlichen Erholungskurs begünstigen.

Das Beispiel Spaniens verdeutlicht, wie dramatische Ereignisse und Wirtschaftskrisen einen übergreifenden gesellschaftlichen Konsens ins Wanken bringen und offene politische und parteipolitische Auseinandersetzungen über Wachstumsstrategien anstoßen können. Da derzeit eine Phase anhaltender und kumulierter Krisen die Stabilität der Weltwirtschaft gefährdet – neben der Coronapandemie, dem Klimawandel und den Herausforderungen der Energiewende hat aktuell der Russland-Ukraine-Krieg fundamentale geopolitische Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum –, ist nicht auszuschließen, dass die Politik der Wachstumsmodelle künftig von weitaus mehr Instabilität und Auseinandersetzungen geprägt sein wird als bisher. Die Folgen dieser vielfältigen, einander überlagernden Krisen und ihre künftigen Auswirkungen auf unsere Volkswirtschaften und den Kapitalismus in seiner derzeitigen Form lassen sich nicht vorhersagen. Doch kann die Forschung zur Politik der Wachstumsmodelle einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, die Transformation des Kapitalismus besser zu verstehen.

Zur Redakteursansicht