Wissenschaft als Berufung: Renate Mayntz zum 90. Geburtstag

Zum Lebenswerk von Renate Mayntz

Am 28. April 2019 ist Renate Mayntz, Direktorin Emerita des MPIfG, 90 Jahre alt geworden. Nach einer wissenschaftlichen Karriere, die auch durch ihre Erfahrungen aus der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit geprägt wurde, gilt Renate Mayntz heute als Grande Dame der deutschen Soziologie. Ihre Arbeiten auf den Gebieten der Gesellschaftstheorie, der politischen Steuerung, Politikentwicklung und -implementation sowie der transnationalen Regulierung gelten als richtungsweisend.

Ein Beitrag von Edgar Grande.

Das Werk vieler bedeutender Sozialwissenschaftler lässt sich mithilfe eines Schlüsselbegriffs erschließen: soziales Handeln bei Max Weber, soziale Komplexität bei Niklas Luhmann, Kommunikation bei Jürgen Habermas. Solche Schlüsselbegriffe prägen ein Forschungsprogramm, sie eröffnen einen je spezifischen Zugriff auf einen Forschungsgegenstand und sie bestimmen den Zuschnitt von Forschungsproblemen. Dass Renate Mayntz eine bedeutende Soziologin ist, wurde schon häufig festgestellt, und das bereits zu einer Zeit, als sich die Forschungsergebnisse des von ihr aufgebauten Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung gerade erst abzeichneten. Ihr beeindruckendes Werk ist seither immer weiter angewachsen und wurde vielfach gewürdigt, periodisiert und vermessen. Das Ergebnis dürfte unstrittig sein: Renate Mayntz ist die bedeutendste Soziologin der Bundesrepublik Deutschland. Ihr Werk hat die Entwicklung der Gesellschaftswissenschaften in Deutschland weit über die Soziologie hinaus beeinflusst; und in ihm spiegelt sich zugleich in vielerlei Hinsicht die Entwicklung der deutschen Gesellschaft in einer sich globalisierenden Welt.

»Im Werk von Renate Mayntz spiegelt sich die Entwicklung der deutschen Gesellschaft in einer sich globalisierenden Welt.«

Gibt es einen Schlüssel zu diesem Werk und, wenn ja, worin besteht er? Was verbindet die Ortsvereine politischer Parteien, mit denen sie sich in den 1950er-Jahren beschäftigte, mit der Organisation der deutschen Ministerialbürokratie und den Implementationsbedingungen politischer Programme, ihren Forschungsschwerpunkten in den 1970er- und 1980er-Jahren, und mit der Regulierung globaler Finanzmärkte, zu der sie in den letzten zehn Jahren gearbeitet hat? Gibt es einen roten Faden, der die verschiedenen Themenschwerpunkte und Phasen verbindet?

Wie würde sie diese Frage wohl selbst beantworten? Für mich findet sich der Schlüssel zum Werk von Renate Mayntz in ihrem wohl am meisten gelesenen Buch, der 1963 erstmals erschienenen Soziologie der Organisation. Mit diesem Buch begründete sie ihren Ruf als die führende Organisationssoziologin der Bundesrepublik, den sie mit späteren Arbeiten (Bürokratische Organisation, 1968; Policy-Making in the German Federal Bureaucracy, 1975; Soziologie der öffentlichen Verwaltung, 1978) festigte. Bereits auf den ersten Seiten skizziert sie ein Forschungsprogramm: die empirische Analyse der modernen Gegenwartsgesellschaft als „organisierter Gesellschaft“. Damit nimmt sie eine Analyseperspektive ein, die sich von den in den wissenschaftlichen Debatten der 1950er- und 1960er-Jahre vorherrschenden Begriffen und Konzepten – sie selbst nennt die „industrielle Gesellschaft“, die „demokratische Massengesellschaft“ und die „spätkapitalistische oder Wohlfahrtsgesellschaft“ – ausdrücklich unterscheidet. Die „gegenwärtige Gesellschaft“, so formuliert sie schon in der Überschrift des ersten Kapitels ihren Ausgangspunkt, ist eine „organisierte Gesellschaft“! Sie ist gekennzeichnet „durch vielfaches Organisieren und durch eine große Zahl von komplexen, zweckbewußt und rational aufgebauten sozialen Gebilden“. Diese Organisationen sind notwendig und unentrinnbar. Auch wenn man nicht Mitglied einer Organisation ist, ganz entziehen kann man sich ihrer Wirkungsmacht nicht. In allen Lebensbereichen ist man von ihrer Existenz und ihrem Funktionieren abhängig. Kurz gesagt: Wir leben in einer „Gesellschaft der Organisationen“, wie der Organisationssoziologe Charles Perrow dies dreißig Jahre später formulierte.

»Die rational geformte Organisation ist zugleich Ordnungsmacht und Element gesellschaftlicher Dynamik.«

Auch wenn es in diesem Buch dann um eine „Soziologie der Organisation“ geht, in deren Mittelpunkt die klassischen Fragen nach Struktur, Mitgliedschaft und Zweck von Organisationen stehen, so geht das Forschungsprogramm, das Renate Mayntz auf den ersten Seiten skizziert, doch weit darüber hinaus. Das liegt im Doppelcharakter der „rational geformten Organisation“ begründet. Diese ist aus ihrer Sicht beides zugleich: Ordnungsmacht und Element gesellschaftlicher Dynamik. In der „stark differenzierten, leistungsorientierten Industriegesellschaft“ sind Organisationen zum einen „ein notwendiges Ordnungsmittel“. Gleichzeitig sind sie die Voraussetzung und Ursache gesellschaftlicher Veränderung. Es ist das sich hieraus ergebende Spannungsfeld zwischen zweckorientierter Gestaltung in und durch Organisationen einerseits und gesellschaftlichen Dynamiken und Eigendynamiken andererseits, das ihren besonderen Blick auf Organisationen auszeichnet, das sie aber auch zwingt, den Blick über die Organisation hinaus zu richten. Das ist nicht gleichbedeutend mit dem Wechsel von der Organisationsebene auf die gesamtgesellschaftliche Ebene. Renate Mayntz grenzt die Organisationssoziologie ausdrücklich von einer „gesamtgesellschaftlichen Betrachtungsweise“ ab. Sie hat auch nie den Anspruch erhoben, mit ihrem besonderen Blick auf die „organisierte Gesellschaft“ zu einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft zu gelangen. Aber in einer solchen Perspektive ist Gesellschaft doch mehr als nur Organisationsumwelt; und Organisationsforschung ist zugleich immer auch Gesellschaftsforschung, wenngleich auf eine ganz bestimmte, selektive Weise. Die Soziologie der Organisation in diesem Verständnis ist unvermeidlich eine Soziologie der organisierten Gesellschaft.

Diese spezifische Problemstellung moderner Gegenwartsgesellschaften wurde von Renate Mayntz in vielen ihrer Arbeiten empirisch erforscht, und ein beachtlicher Teil ihres Gesamtwerks kann als Beitrag zu einer solchen Soziologie der organisierten Gesellschaft gelesen werden. Im Mittelpunkt stehen die eigentümlichen Spannungen, Ambivalenzen, Steuerungsprobleme und Entwicklungsdynamiken der modernen Gegenwartsgesellschaft als organisierter Gesellschaft. Den Schwerpunkt des empirischen Forschungsprogramms, das Renate Mayntz auf der Grundlage dieser Problemstellung entwickelte, bildete lange Zeit die rationale Organisation der planenden und steuernden Verwaltung. Im Kern ging es ihr um die institutionellen Binnenstrukturen des politisch-administrativen Systems und die daraus resultierenden Restriktionen einer „aktiven Politik“. Beispielhaft dafür sind ihre Arbeiten mit Fritz W. Scharpf zur Organisation der Ministerialverwaltung aus den 1970er-Jahren. Im nächsten Schritt rückten dann Organisationen als Adressaten politischer Programme in das Zentrum des Interesses. Die Organisiertheit der Gesellschaft, so notwendig sie auch ist, konnte Teil des Problems politischer Reformen sein, sie konnte aber auch – unter spezifischen, empirisch genauer zu ermittelnden Bedingungen – Teil der Lösung sein.

Das erste Forschungsprogramm des Kölner Instituts mit seiner steuerungstheoretischen Perspektive hat dies dann für mehrere gesellschaftliche Teilsysteme (Gesundheit, Forschung) systematisch untersucht. In diesen Analysen ging es darum, die (institutionellen) Bedingungen zu identifizieren, unter denen die Widerspenstigkeit von „Steuerungsadressaten“ überwunden beziehungsweise ihre kollektive Handlungsfähigkeit genutzt werden kann. Im Ansatz des „akteurzentrierten Institutionalismus“ hat dieses Forschungsprogramm schließlich seine theoretische Fundierung erhalten. Auch wenn die Begrifflichkeit es nahezulegen scheint, so ist mit diesem Forschungsansatz keine Abkehr von Organisationen verbunden. Im Gegenteil, Akteure treten dort in einer ganz bestimmten Form in Erscheinung, nämlich als „korporative Akteure“ – und damit ist gemeint: als Organisationen. Das Interesse gilt nicht individuellen Konsumenten, einzelnen Wählern oder Politikern, sondern Unternehmen, Verwaltungen, Verbänden als Organisationen und den durch sie konstituierten Organisationsnetzwerken. Es geht immer um die institutionelle Verfasstheit gesellschaftlicher Regelungsfelder, die Selbstorganisation gesellschaftlicher Akteure und die Möglichkeiten und Grenzen einer Steuerung durch staatliche Organisationen. Kurz gesagt: Es geht um das Spannungsfeld von Steuerung und Selbstorganisation, von zweckorientierter Gestaltung und Eigendynamik in einer organisierten Gesellschaft.

Renate Mayntz hat mit dieser Forschung das Verständnis der Möglichkeiten und Grenzen einer staatlichen Steuerung in modernen Gegenwartsgesellschaften entscheidend verbessert. Sie hat in den 1980er- und 1990er-Jahren sehr wirkungsvoll eine empirisch fundierte Gegenposition zum Steuerungspessimismus der Luhmann’schen Systemtheorie formuliert. Dabei hat sie gezeigt, dass man auch im Flug unter den Wolken weite Strecken zurücklegen und wichtige Einsichten in die Funktionsweise und den Wandel moderner Gesellschaften gewinnen kann.

Ihr Programm einer empirisch fundierten Soziologie der organisierten Gesellschaft ist nicht abgeschlossen – es kann gar nicht abgeschlossen werden. Im Unterschied zu geschlossenen Gesellschaftstheorien ist es auf Offenheit angelegt. Es kann und muss sich ständig an Veränderungen in der institutionellen Verfasstheit der Gesellschaft, den Anforderungen an kollektives Handeln und den politischen und institutionellen Bedingungen einer politischen Steuerung anpassen, ob es die Globalisierung und Digitalisierung der Wirtschaft ist, das Entstehen neuer politischer Konfliktlinien oder die Herausbildung neuer Mehrebenenarchitekturen des Regierens. Moderne Gegenwartsgesellschaften sind „bewegliche Ziele“ und entsprechend offen und flexibel muss eine organisationszentrierte Gesellschaftsforschung sein, die soziales Handeln durch systematische empirische Beobachtung erfassen und erklären will. Deshalb überrascht es nicht, dass Renate Mayntz nach ihrer Emeritierung ihre wissenschaftliche Arbeit mit beeindruckender Konsequenz fortgesetzt und noch keineswegs abgeschlossen hat. Sie entwickelte ihr Forschungsprogramm seither in mehreren Schritten weiter und hat sich neue Themengebiete wie den transnationalen Terrorismus oder die Regulierung der internationalen Finanzmärkte erschlossen. Zugleich hat sie die theoretische Fundierung ihrer Forschung von der Steuerungstheorie zum Governance-Konzept erweitert. Ihre 2009 erschienene Aufsatzsammlung mit dem lakonischen Titel Über Governance ist zu einem Standardwerk der Governance-Forschung geworden.

»Im akteurzentrierten Institutionalismus geht es um das Spannungsfeld von Steuerung und Selbstorganisation.«

All das schließt die Möglichkeit verallgemeinerbarer Aussagen nicht aus. Das zeigt beispielhaft ihre organisationssoziologische Studie zum Forschungsmanagement aus dem Jahr 1985, in der sie ein „großes Thema“ der Organisationsforschung, die Frage nach der optimalen Organisationsform, „aus einem relativ engen Gesichtswinkel“, nämlich der Organisation und Leitung von hochschulfreien, öffentlich finanzierten Forschungsinstituten untersucht. Auf die Frage, was die für eine solche Forschung am besten geeignete Organisation ist, gibt sie eine auf den ersten Blick ernüchternde Antwort: „Es gibt keine problemfreien Organisationsformen!“ Jede organisatorische Lösung, wie auch immer sie aussieht, ist spannungsgeladen und diese Spannungen und Probleme sind nicht aufhebbar. Forschungsmanagement, so ihre Einsicht kurz bevor sie die Leitung des Kölner Instituts übernahm, ist deshalb zwangsläufig der „Versuch, den Tiger zu reiten, die Spannungen auszugleichen und das Abgleiten in das eine oder andere Extrem zu verhindern“.

»Es gibt keine problemfreien Organisationsformen.«

In ihrer Zeit als Direktorin des Kölner Instituts hat sie gezeigt, dass es möglich ist, den Tiger erfolgreich zu reiten. Dazu mag beigetragen haben, dass sich das Institut und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seinerzeit wohl nicht als „Tiger“ gesehen haben. Aber wichtiger war doch, dass Renate Mayntz über eine Fähigkeit verfügt, auf die es gerade in solchen prinzipiell spannungsreichen Konstellationen ankommt, nämlich „Persönlichkeit“ im Sinne Max Webers. „‚Persönlichkeit‘ auf wissenschaftlichem Gebiet“, so Weber in seinem Vortrag „Wissenschaft als Beruf“, „hat nur der, der rein der Sache dient.“ Auf Renate Mayntz trifft dies in ganz besonderer Weise zu.


Renate Mayntz begann ihre akademische Laufbahn 1948 mit dem Studium der Chemie am Wellesley College in Massachusetts und der Technischen Universität Berlin, das sie im Jahr 1951 abschloss. Im Anschluss studierte sie Soziologie, Psychologie und Publizistik an der Freien Universität Berlin und promovierte 1953 im Fach Soziologie bei Otto Stammer. Dort schloss sie vier Jahre später auch ihre Habilitation erfolgreich ab. Sie hatte die Soziologie als ein Fach gewählt, mit dem sie angesichts der Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Regime eine Antwort auf die Frage „Wie ist so was möglich?“ suchen konnte. Erste Forschungstätigkeiten im UNESCO-Institut für Sozialwissenschaften und später als DFG-Stipendiatin sowie als Rockefeller Fellow in den USA folgten. 1965 wurde sie Ordinarius für Soziologie an der Freien Universität Berlin. Während dieser Zeit war sie auch Mitglied des Deutschen Bildungsrates, Mitglied der Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform sowie Mitglied der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts. 1971 folgte sie zunächst dem Ruf an die Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer und zwei Jahre später an die Universität zu Köln. 1984 erhielt Renate Mayntz von der Max-Planck-Gesellschaft den Auftrag zur Gründung des MPIfG, das sie bis zu ihrer Emeritierung 1997 zusammen mit dem Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf leitete. Bis heute ist sie am Kölner Institut wissenschaftlich aktiv. In ihrer aktuellen Forschung, angestoßen durch die Finanzkrise seit 2008, beschäftigt sie sich mit Aspekten der Globalisierung und Governance auf nationaler und internationaler Ebene.

Aktueller Beitrag zu den Lebensstationen von Renate Mayntz in der Zeitschrift Soziologie: Schimank, U.: Renate Mayntz zum 90. Geburtstag. Soziologie 48 (3): 367–72 (2019).

Edgar Grande gründete 2017 das Zentrum für Zivilgesellschaftsforschung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Zuvor war er Inhaber zweier Lehrstühle für Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München (2004–2017) und an der Technischen Universität München (1996–2004) sowie DAAD Chair in German and European Politics an der University of Toronto (2001–2002). Steuerungsprobleme westlicher Industriegesellschaften wie auch Forschungs-, Technologie- und Industriepolitik waren Schwerpunkte seiner Forschung als wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPIfG (1989–1996).

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