Soziale Ordnungen grenzüberschreitend betrachten

Sigrid Quack und Karen Shire im Gespräch

Sigrid Quack und Karen Shire sind Professorinnen an der gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Duisburg-Essen, die seit Oktober 2017 assoziierter Partner der International Max Planck Research School on the Social and Political Constitution of the Economy (IMPRS-SPCE) ist. Im Interview sprechen sie über die Bedeutung von Forschungstraditionen, die Rolle der Soziologie im Kontext der Globalisierung und ihre Impulse für das Graduiertenprogramm des MPIfG.

Die Fragen stellte Susanne Berger.

SB: Frau Quack, Frau Shire, Ihr Forschungsinteresse liegt in den Bereichen grenzüberschreitende Institutionenbildung und transnationale Governance. Welche Aspekte interessieren Sie hier genau?

KAREN SHIRE: Mich interessiert die Koordination von Unsicherheiten in grenzüberschreitenden Arbeitsmärkten und globalen Produktionsstätten. Aktuell beschäftige ich mich unter anderem mit dem Entstehen von Migrationsmärkten, zum Beispiel für Handwerker oder Haushaltshilfen. Die Transnationalisierung der Arbeit findet nicht nur im Kontext der Europäisierung statt, sondern auch in Zusammenhang mit Regionalisierungs- und Globalisierungsprozessen in anderen Weltregionen. Ich möchte die Erkenntnisse über Transnationalisierungsprozesse durch eine außereuropäische Perspektive erweitern.

SIGRID QUACK: Ich möchte besser verstehen, weshalb wir auf globaler Ebene in verschiedenen Politikfeldern unterschiedliche Verlaufsmuster transnationaler Governance beobachten und was deren Wirkungen für soziale Inklusion beziehungsweise Exklusion sind. Diese Forschung schließt an meine Arbeiten der MPIfG-Forschungsgruppe an, die ich bis zum Wechsel an die Universität Duisburg-Essen im Jahr 2013 geleitet habe. In den nächsten Jahren plane ich, vertiefend die Auseinandersetzungen um Expertenwissen (epistemische Autorität) zu untersuchen, die wir häufig dort beobachten können, wo private, zivilgesellschaftliche und öffentliche Akteure es mit regulatorischer Unsicherheit zu tun haben. Ich will aufzeigen, wie Konflikte darüber, wer das (vermeintlich) „beste“ Wissen für grenzüberschreitende Governanceprozesse hat, Verlaufsmuster in verschiedenen Politikfeldern prägen.

»Wir sollten uns in der jetzigen Zeit unserer Traditionen entpflichten, um die Soziologie jenseits des Nationalstaats zu entdecken.«

SB: Sie haben ausgesprochen international ausgerichtete Forschungsgruppen. Welcher Forschungstradition fühlen Sie sich verpflichtet?

SIGRID QUACK: Meine Promotionszeit und die anschließende Forschungstätigkeit am Wissenschaftszentrum Berlin, das in den 1990er-Jahren einen für Deutschland außergewöhnlich interdisziplinären und internationalen Kontext bot, haben meine Forschung sehr geprägt. Dadurch habe ich sehr früh an verschiedenen internationalen Forschungsnetzwerken mitwirken können. Hier habe ich erlebt, wie herausfordernd es manchmal ist, sich über verschiedene (auch nationale) Forschungstraditionen hinweg zu verständigen. Am Ende dieser Bemühungen stand für mich immer eine große Erweiterung des Erkenntnishorizonts. Ich habe es stets als einengend empfunden, wenn ich mich einer bestimmten Forschungstradition zuordnen sollte. Für mich stand immer das Forschungsproblem im Vordergrund und daran schloss sich die Frage an, mit welchen Theorien ich mich der Untersuchung einer Fragestellung am besten nähern kann. In meine Forschung zur grenzüberschreitenden Institutionenbildung integriere ich verschiedene Stränge der Institutionenforschung. Dabei erscheint mir der amerikanische Pragmatismus am hilfreichsten, um die Wandlungsfähigkeit und Mehrdeutigkeit von Institutionen in transnationalen Räumen zu erfassen.

KAREN SHIRE: Meine Promotion habe ich an der University of Wisconsin-Madison abgeschlossen, die ich wegen des sehr europäisch ausgerichteten Schwerpunkts in der Sozialstrukturanalyse und der historischen Soziologie ausgewählt hatte. Das Thema meiner Doktorarbeit war die Entstehung und Institutionalisierung der Wirtschaftsdemokratie in Deutschland und Österreich von 1918 bis 1989. Noch vor der Einreichung fiel die Berliner Mauer, und die Erkenntnisse, die ich mit der Promotionsarbeit gewonnen hatte, waren sofort veraltet. Ich wandte mich etwas Neuem zu und trat nach der Promotion eine Assistenzprofessur in Tokio an. In Japan gewann ich eine ganz neue Perspektive, nicht nur auf den modernen Gesellschaftsvergleich, sondern auch auf die Post-Industrialisierung, den Wandel zu einer neuen und wissensintensiven Ökonomie und die Auswirkungen von Globalisierungsprozessen im interregionalen Vergleich. So überrascht es vielleicht nicht, dass ich mich in meinem Werdegang der zweiten Welle der historisch-vergleichenden Soziologie verpflichtet fühle, Werken wie Barrington Moores „The Social Origins of Dictatorship and Democracy“ oder Reinhard Bendixs „Nation-Building and Citizenship“. Ich bin jedoch der Auffassung, wir sollten uns in der jetzigen Zeit unserer Traditionen entpflichten, um die Soziologie jenseits des Nationalstaats zu entdecken.

SB: Welche Forschungsrichtungen und Ansätze werden Sie in die IMPRS-SPCE einbringen?

SIGRID QUACK: Für ein tiefer gehendes Verständnis der sozialen und politischen Konstitution von Wirtschaft(-en), wie es die IMPRS-SPCE anstrebt, wird es immer wichtiger, Globalisierungsprozesse einzubeziehen. Dies gilt einerseits für wachsende internationale Abhängigkeiten ökonomischer, sozialer, kultureller und politischer Natur. Andererseits betrifft dies aber auch soziale und politische Kontroversen über die Globalisierung und deren Auswirkungen auf soziale Ungleichheit, demokratische Partizipation und gesellschaftliche Teilhabe. Zu diesen Themen möchten wir im Rahmen der IMPRS-SPCE mit den Forschungen meiner Arbeitsgruppe zur grenzüberschreitenden Insti-tutionenbildung sowie dem Forschungscluster zu globaler und transnationaler Governance am Profilschwerpunkt „Wandel von Gegenwartsgesellschaften“ der Universität Duisburg-Essen einen Beitrag leisten. Die Arbeit des internationalen Käte Hamburger Kolleg/Centre for Global Cooperation Research zu Bedingungen und Formen globaler Kooperation, das ich seit Februar dieses Jahres leite, soll maßgeblich in die Partnerschaft mit der IMPRS-SPCE einfließen.

KAREN SHIRE: Wir möchten die Duisburger Schwerpunkte in der vergleichenden und transnationalen Arbeits- und Wirtschaftssoziologie einbringen und dabei insbesondere jene Dimensionen von Arbeit hervorheben, die zu oft in der klassischen Industrie- und Wohlfahrtssoziologie unterbelichtet oder zweitrangig betrachtet werden. Ich denke hier an Themen wie unbezahlte oder informelle Arbeit, Arbeitsmigration oder die sozialen Risiken, die aus nicht regulärer Arbeit entstehen. Darüber hinaus werden wir gemeinsam mit dem Institute of East Asian Studies (IN-EAST) der Universität Duisburg-Essen interdisziplinäre Impulse für weltregional-vergleichende Studien zu Transformationen der Arbeitswelt und Sozialpolitik geben. Ich bin der Meinung, dass man bei den kritischen Auseinandersetzungen über die Zukunft – oder auch das Ende – des Kapitalismus die Bedeutung Ostasiens für die Entwicklung der Weltwirtschaft nicht vernachlässigen darf. Asienbezogene Forschungsvorhaben in der IMPRS-SPCE werden an der Expertise, Sprachausbildung und den Partnerschaften des IN-EAST anknüpfen können.

SB: Das MPIfG kooperiert im Rahmen der IMPRS-SPCE nun mit zwei Universitäten an verschiedenen Standorten. Welche Herausforderungen gibt es dabei aus Ihrer Sicht?

SIGRID QUACK: Eine Kooperation über verschiedene Standorte hinweg ist natürlich mit logistischen Herausforderungen verbunden, auch wenn das Ruhrgebiet und das Rheinland gut miteinander verbunden sind. Durch den Einsatz von digitalen Kommunikationsformen lassen sich die räumlichen Distanzen aber bestens überbrücken. Unsere Zusammenarbeit fängt ja auch nicht bei „null“ an, sondern fundiert auf bereits tradierten kollegialen Netzwerken zwischen dem MPIfG, der Universität zu Köln und der Universität Duisburg-Essen. Zukünftig sind auch gemeinsame Workshops für den wissenschaftlichen Nachwuchs denkbar, die mal in Köln und mal in Duisburg stattfinden. So können interessierte Kolleginnen und Kollegen vor Ort mit einbezogen werden und ein wenig die jeweilige „Campusluft schnuppern“.

»Für ein tiefer gehendes Verständnis der sozialen und politischen Konstitution von Wirtschaft wird es immer wichtiger, Globalisierungsprozesse einzubeziehen.«

SB: Wie sieht die assoziierte Partnerschaft zwischen IMPRS-SPCE und der Universität Duisburg-Essen in der Praxis aus und was ist für die Zukunft geplant?

SIGRID QUACK: Im Oktober 2017 haben die ersten beiden IMPRS-SPCE-Promovierenden ihr Stipendium an der Universität Duisburg-Essen angetreten. Es ist grundsätzlich vorgesehen, dass alle IMPRS-SPCE-Doktoranden und -Doktorandinnen einer Kohorte zunächst die ersten sechs Monate zusammen am MPIfG in Köln verbringen, um sich kennenzulernen und dort den größten Teil der Kernkurse des Curriculums zu absolvieren. „Unsere“ Doktorandinnen und Doktoranden werden dann in den darauffolgenden drei Jahren am Campus Duisburg in einem interdisziplinären und internationalen Forschungsumfeld ihre Dissertationsprojekte bearbeiten. Durch Kolloquien und Veranstaltungen in Köln gewährleisten wir auch in dieser Phase die stetige Anbindung der Doktorandinnen und Doktoranden an das MPIfG. Selbstverständlich sind wir zudem am Curriculum der IMPRS-SPCE beteiligt, im Sommersemester 2018 zum Beispiel bieten Karen und ich ein Seminar zum Thema „Transnational Governance“ an. Ab Herbst 2019 streben wir die Vollmitgliedschaft in der IMPRS-SPCE an.

SB: Was ist ihre Vision von wirtschaftssoziologischer Forschung in den nächsten fünf Jahren und was möchten Sie im Rahmen der Partnerschaft mit dem MPIfG dazu beitragen?

SIGRID QUACK: Die Wirtschaftssoziologie sollte mehr mit angrenzenden Gebieten wie der Kultursoziologie, politischen Soziologie und der Ungleichheitsforschung kooperieren. Nur so lässt sich die Politisierung oder Entpolitisierung von bestimmten Erscheinungsformen des globalen Kapitalismus verstehen; nur so können die Wirkungen kapitalistischer Produktionsverhältnisse in verschiedenen Weltregionen angemessen erfasst werden. Ich würde die Partnerschaft gerne nutzen, um die Bedeutung von fiktionalen Erwartungen an eine ungewisse Zukunft nicht nur mit Bezug auf die Dynamiken des Kapitalismus zu erforschen, sondern auch mit Bezug auf die soziopolitischen Dynamiken im Bereich der globalen Politik und Institutionenbildung.
KAREN SHIRE: Wir leben in einer globalen Welt, die Soziologie bleibt aber in ihren Methoden und Lösungen zu nationalstaatlich geprägt. Mit neuen Erkenntnissen, wie soziale Ordnung grenzüberschreitend entstehen kann, hoffe ich, diesen Spalt ein kleines bisschen zu schließen. Wir bauen gerade einen Forschungsverbund zu transnationaler Arbeit in Duisburg auf und in den Ostasienwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen einen neuen Schwerpunkt zu Transnationalisierung in Ostasien. Wir gewinnen sehr viele Impulse durch die am MPIfG und in der IMPRS-SPCE etablierte neue Marktsoziologie, Governance-Forschung, Europaforschung und auch durch die Kultur der kritischen Auseinandersetzungen über die Globalisierung und Europäisierung.


Sigrid Quack ist seit 2013 Professorin für Vergleichende Soziologie an der Universität Duisburg-Essen. Seit 2017 ist sie außerdem Direktorin des dort ansässigen Käte Hamburger Kolleg/Centre for Global Cooperation Research. Von 2007 bis 2013 forschte Sigrid Quack am MPIfG. Hier war sie zuletzt Leiterin der Forschungsgruppe „Grenzüberschreitende Institutionenbildung“, heute ist sie weiterhin Mitglied des Councils der IMPRS-SPCE.

Karen Shire ist seit 1999 Professorin für Vergleichende Soziologie und die Gesellschaft Japans am Institut für Soziologie und Institut für Ostasienwissenschaften (IN-EAST) der Universität Duisburg-Essen. Derzeit ist sie Gastprofessorin am Institute of Global Leadership der Ochanomizu University in Tokio. Forschungsschwerpunkte von Karen Shire liegen unter anderem im Bereich der Transnationalisierung von Arbeitsmärkten in Europa und Asien sowie in der Geschlechterforschung.

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