Die Zukunft ist unkalkulierbar: Wie treffen Wirtschaftsakteure ihre Entscheidungen?

Die Zukunft ist unkalkulierbar: Wie treffen Wirtschaftsakteure ihre Entscheidungen?

Jens Beckert und Richard Bronk

7. Januar 2019

Wie entwerfen Wirtschaftsakteure ihr Bild von der Zukunft und wie treffen sie Entscheidungen angesichts der Ungewissheit kommender Entwicklungen? Jens Beckert und Richard Bronk gehen dieser Frage nach, ausgehend von der Annahme, dass die kapitalistische Ökonomie von steten Innovationen und dynamischen Veränderungen gekennzeichnet ist, die sich nicht auf kalkulierbare Risiken reduzieren lassen. Wirtschaftsakteure müssen ihre Entscheidungen trotz einer hohen Unsicherheit treffen. Hierfür verbinden sie die notwendigerweise unvollkommenen Prognosen und Risikoabschätzungen mit Narrationen über die Zukunft und formen so fiktionale Erwartungen, die Zuversicht schaffen, ihnen helfen, ihr Handeln zu koordinieren und dadurch die Zukunft prägen.

Menschen treffen Entscheidungen mit Blick auf die Zukunft. Sie sorgen für schlechte Zeiten vor oder handeln gegenwärtig in einer Weise, die es ihnen erleichtert, sich und ihre Kinder auch künftig zu versorgen. Diese Zukunftsorientierung des menschlichen Handelns erhält in modernen kapitalistischen Wirtschaftssystemen eine völlig neue Qualität: Die Zukunft ist nicht länger an Traditionen gebunden und lässt sich daher nicht einfach als Wiederholung der Vergangenheit annehmen. Auch stellt man sich die Zukunft nicht mehr, wie Religionen oder der Marxismus es nahelegen, als eine Bewegung auf einen vorherbestimmten Endzustand vor.

Dabei rufen nicht hauptsächlich unkontrollierbare Zukunftsereignisse, wie Erdbeben oder Dürren, Unvorhergesehenes hervor. Vielmehr sind es die Entscheidungen der Akteure selbst, mit denen sie versuchen, ihre Ziele zu erreichen. Das Risiko des Scheiterns ist allerdings ein ständiger Begleiter auf dem eingeschlagenen Weg. In kapitalistischen Systemen sehen sich Akteure einer offenen und unbestimmten Zukunft gegenüber. Sie können sich eine Fülle möglicher Zukunftsszenarien vorstellen und für diese planen, wobei die Wahlmöglichkeiten verwirrend vielfältig und deren Ergebnisse unvorhersehbar sind.

Neue Sichten auf die Zukunft revolutionieren die Modelle wirtschaftlichen Denkens

Eine dermaßen ungewisse Zukunft ist eine zwangsläufige Folge der institutionellen Strukturen des Kapitalismus, der menschlichen Fähigkeit zur Kreativität und der Freiheit, sich noch nie Dagewesenes vorzustellen. Wettbewerb sowie permanente Innovationen und Neuerungen sind prägend für die Dynamik moderner kapitalistischer Ökonomien und zwingen Investoren wie auch politische Entscheidungsträger und Verbraucher, mit einer ungewissen, nicht auf ein messbares Risiko reduzierbaren Zukunft umzugehen. Die Zukunft ist unbestimmt, weil sie erst noch erschaffen werden muss.

Wie entwickeln Wirtschaftsakteure unter Bedingungen radikaler Ungewissheit Vorstellungen von der Zukunft und wie treffen sie Entscheidungen? Die Bedeutung von Erwartungen hinsichtlich einer unbestimmten Zukunft für die Erklärung wirtschaftlicher Phänomene ist ein zentrales Forschungsfeld des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung. Es geht dabei nicht darum, normativ zu bestimmen, wie Akteure ihre Zukunft analysieren und Entscheidungen trotz fehlenden Vorauswissens treffen sollten. Auch geht es nicht darum, Ökonomen ein detailliertes Handbuch zur Überarbeitung ihrer Modellierungspraktiken an die Hand zu geben. Vielmehr geht es um das genaue Verständnis der Praktiken der Erwartungsbildung in der Wirtschaft und welche Rolle hier kalkulative Modelle und die Imagination der Zukunft spielen.  

»Die Zukunft ist unbestimmt, weil sie erst noch erschaffen werden muss.«

In der jüngeren Vergangenheit ist weit über die heterodoxe Ökonomie hinaus ein Wiedererwachen des Interesses an radikaler Ungewissheit zu beobachten. Es bezieht sich häufig auf Forschungsarbeiten, die auf den Erkenntnissen der Ökonomen Frank Knight, John Maynard Keynes, Friedrich August von Hayek und George Shackle basieren. Diese wieder auflebende epistemische Tradition lässt sich mit innovativen Forschungsarbeiten von Wirtschaftssoziologen, Anthropologen, Politökonomen, Historikern und Psychologen zusammenführen, um die sozial und politisch geprägte Natur von Erwartungen unter Bedingungen von Ungewissheit und ihre Rolle für die Entwicklung des Kapitalismus zu untersuchen.

Die meisten Makroökonomen halten jedoch an Varianten der rationalen Erwartungstheorie fest, die davon ausgehen, dass die Akteure aufgrund des Wettbewerbsdrucks insgesamt zu Erwartungen konvergieren werden, die systematische Prognosefehler vermeiden und mit den Prognosen des relevantesten ökonomischen Modells übereinstimmen. Die wichtigen Teildisziplinen Informationsökonomie und Verhaltensökonomie legen ihren Schwerpunkt auf Ergänzungen dieser Theorie, sodass diese mit den erheblichen Wissensproblemen umgehen kann, die durch Informationsasymmetrien und vorhersehbare kognitive Verzerrungen aufseiten der Akteure entstehen. Doch bleibt die zentrale Annahme unverändert: Akteure stehen nicht etwa einer radikal unbestimmten Zukunft gegenüber, sondern einem messbaren Risiko, das durch Wahrscheinlichkeitsfunktionen objektiv geschätzt werden kann. Immer klarer wird jedoch, dass die Mikrofundierung gegenwärtiger ökonomischer Standardmodelle für den Umgang mit einer durch und durch unsicheren Zukunft nicht geeignet ist. Wollen wir die Entscheidungsfindung unter solchen Bedingungen verstehen, erfordert dies ein neues Modell wirtschaftlichen Denkens.

Die Forschungen am MPIfG leisten einen grundlegenden Beitrag zu einem solchen Modell. In der jüngsten Publikation, dem von Jens Beckert und Richard Bronk herausgegebenen Sammelband „Uncertain Futures. Imaginaries, Narratives, and Calculation in the Economy“ (OUP 2018), zeigen die Autoren auf, wie Akteure im praktischen Wirtschaftsleben Erwartungen unter Bedingungen von Ungewissheit bilden. Die Fallstudien verdeutlichen die Rolle von Imaginationen, Narrativen und kalkulativen Verfahren bei der Bildung von Erwartungen und dem Umgang mit einer ungewissen Zukunft. Imaginationen sind sowohl die Ursache von Ungewissheit als auch unser wichtigstes Werkzeug zu ihrer Bewältigung.  

»Imaginationen sind sowohl die Ursache von Ungewissheit als auch unser wichtigstes Werkzeug zu ihrer Bewältigung.«

Kalkulative Verfahren wie etwa Risikomanagementmethoden und Discounted-Cashflow-Modelle ebenso wie weitere Methoden zur Konzipierung der Zukunft – wie etwa die Forward Guidance der Zentralbanken, Wirtschaftsprognosen, Businesspläne, technologische Zukunftsvisionen und New Era Stories – verflechten sämtlich Kalkulation und Imagination in einer narrativen Struktur. Kalkulationsmodelle und Narrative beeinflussen die Erwartungen der Akteure und sie beeinflussen deren Handlungen, wenn die Narrative als glaubwürdig erscheinen. Ebenso aber werden Narrative zu Machtinstrumenten auf Märkten und in Gesellschaften.

Gefragt sind Urteilskraft und kritische Distanz

Die Unbestimmbarkeit der Zukunft – und die daraus oft folgende Unmöglichkeit, probabilistische Vorhersagen zu treffen oder im Voraus zu wissen, welches Erklärungsmodell tatsächlich das richtige sein wird – impliziert für politische Entscheidungsträger und Marktteilnehmer, dass beunruhigenderweise weder ein offensichtlicher Wissensanker noch objektive Wahrscheinlichkeiten zur Steuerung der Imaginationen und Narrative existieren. Natürlich spielen rationale Analysen eine bedeutende Rolle, etwa bei Stresstests von Stories und Erwartungen auf ihre langfristige Plausibilität und Durchführbarkeit. Doch zumindest kurzfristig kann der Erfolg, den ein Narrativ am Markt oder in der Politik hat, stärker an seine emotionale Anziehungskraft, die Glaubwürdigkeit seines Erzählers und die verwendeten rhetorischen Mittel geknüpft sein als an seine Zuverlässigkeit der Vorhersage zukünftiger Entwicklungen. Oft sind die Erwartungen, die die Marktteilnehmer leiten, ein Produkt aus innovativen Imaginationen und einem am Markt oder in der Politik ausgetragenen Wettstreit um die Überlegenheit unterschiedlicher Narrative und Modelle. Erwartungen sind alles andere als die Reflexion einer erkennbaren Zukunft. Sie können im Wirtschaftssystem eine Quelle der Innovation sein – ein lebendiges Produkt politischer Debatten, von Machtausübung und von Kreativität.  

»Homogene Analysen können als Warnsignal einer gemeinsamen kognitiven Kurzsichtigkeit gelten.«

Damit sind Gefahren verbunden. Etwa wenn Ansätze zur Narration oder Kalkulation der Zukunft – seien es New Era Stories, Wirtschaftsprognosen oder die Ergebnisse von finanzmathematischen Modellen – als scheinbar objektive Darstellungen der Zukunft behandelt werden. Die Finanzkrise vor zehn Jahren hat dies gezeigt. Unter Bedingungen von Ungewissheit kommt es gerade auf Urteilskraft und kritische Distanz zu mechanischen Vorhersagen an. Dies bedeutet, sich nicht auf eine analytische Monokultur einzulassen, denn homogene Analysen können eher als Warnsignal einer gemeinsamen kognitiven Kurzsichtigkeit gelten. Sie verringern die Vielfalt des kognitiven Inputs in Entscheidungsprozesse und können, wenn sie sich als unzulänglich erweisen, Märkte destabilisieren.

Wirtschaftstheoretiker haben es bei der Modellierung von Entscheidungsprozessen mit Situationen zu tun, die aufgrund sich ausbreitender Innovationen und komplexer Interdependenzen unbestimmt sind. Ihre wichtigste Lektion besteht darin, dass auch analysiert werden muss, wie und in welchem Ausmaß Narrative und fiktionale Erwartungen Überzeugungen und Verhalten beeinflussen. Auch sollten sie beim Entwurf von Narrativen und Modellen, die die Zukunft und die Koordination von Verhalten erfolgreich simulieren sollen, wachsam auf die Bedeutung und den Einfluss populärer Theorien, politischer und wirtschaftlicher Macht, von Emotionen und Rhetorik achten. Und schließlich sollte ein ökonomisches Modell mindestens ebenso für seine Fähigkeit anerkannt werden, die in einem dynamischen Wirtschaftsumfeld aufkommenden Tendenzen zu diagnostizieren, wie für seinen mathematischen Fit mit den Daten wiederkehrender Ereignisse aus der Vergangenheit. Für eine ungewisse Zukunft ist die Vergangenheit kein guter Ratgeber.  

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