Einer, der anders denkt

Robert Boyer - Forscherporträt

27. Februar 2015

Der französische Regulationstheoretiker Robert Boyer beschäftigte sich in drei Gastvorlesungen am MPIfG mit den epistemologischen und institutionellen Gründen für die Krisen in der Makroökonomie und in der Eurozone. Eine Begegnung.

„Eigentlich wollte ich einmal Physiker werden“, sagt Robert Boyer, der zweiundsiebzigjährige Ökonom aus Frankreich in seinem Büro im Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, wo er in diesem Frühjahr Gast war. „Dann, Mitte der Sechzigerjahre, wurde mein Forschungskredit gekürzt. Mein Schicksal wäre der Brücken- und Straßenbau geworden“, sagt Boyer. Weil ihm die Praxis weniger erbaulich erschien als die theoretische Reflexion, ergänzte Boyer seine Ausbildung an der École nationale des ponts et chaussées, einer Elitehochschule für Ingenieurwesen, mit einem Studium am Institut d’études politiques de Paris, der angesehenen Hochschule für Sozialwissenschaften, die heute unter dem Namen „Sciences Po“ bekannt ist. Danach studierte er noch Ökonomie an der Universität Paris I. Nach dem Abschluss an der Paris I widmete sich Boyer an der Sciences Po fortan der Politikwissenschaft und der Ökonomie.

Der Sprung vom Bauingenieur zum politischen Ökonomen fiel in Robert Boyers Leben mit einem gesellschaftlichen Epochenbruch zusammen: In Nizza an der Côte d’Azur geboren, wurde Boyer im politisch bewegten Paris der späten 1960er-Jahre zum Aktivisten: „Wir sahen in der ökonomischen Analyse ein wesentliches Mittel zur Befreiung, zur Befreiung des Lebens von ökonomischen Prinzipien – Idealismus!“ Damals hätten alle ihren Marx gelesen, sagt Boyer. „Ein linker Aktivist musste ein Experte der politischen Ökonomie sein. Im vollen Bewusstsein der Logik des Kapitalismus sollte die Politik fähig werden, die wirtschaftlichen Kräfte in ihre Schranken zu weisen.“

»Im politisch bewegten Paris der späten 1960er-Jahre musste ein linker Aktivist ein Experte der politischen Ökonomie sein.« 

In den 1960er-Jahren war Frankreich mit seiner florierenden, stark staatlich geprägten Großindustrie zum Inbegriff einer „gemischten Volkswirtschaft“ geworden; zu einer Synthese zwischen Markt und Staat, die durch ihre keynesianisch geprägte Steuerung der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus entwachsen schien. Die Ölkrise und der Zusammenbruch des Währungssystems der Nachkriegszeit von Bretton Woods setzte 1973 den Trente glorieuses, der knapp dreißigjährigen Wachstumsperiode nach dem zweiten Weltkrieg allerdings ein jähes Ende und damit auch dem Glauben an die Möglichkeit eines krisenfreien Kapitalismus. In den USA und in Großbritannien schlug die Stunde der neoliberalen Wirtschaftswissenschaft, die einen Ausweg aus der Krise propagierte, der auf einer Befreiung des Kapitals aus den regulativen Schranken des Keynesianismus basierte. In Frankreich dagegen begann sich eine Gruppe von Ökonomen unter dem Eindruck der Krise wieder für die Geschichte kapitalistischer Zyklen aus Wachstum und Krise zu interessieren.

Robert Boyer war einer von ihnen. Ab 1974 forschte er am Pariser Centre pour la recherche économique et ses applications (CEPREMAP) und wurde dort zu einem der prägenden Denker der Regulationstheorie: „Regulationisten verstehen den Kapitalismus als ein ökonomisch-politisches System, das sich in einem andauernden endogenen Veränderungsprozess befindet. Wir wollen wissen, was den Kapitalismus befähigt, seine eigene Art und Weise des Funktionierens immanent immer wieder neu zu organisieren.“ In ihren Analysen schenken die Regulationisten den Krisen des Kapitalismus eine besondere Aufmerksamkeit und versuchen damit, jene Kräfte offenzulegen, die in der Geschichte des Kapitalismus für Bewegung und Wandel sorgen. „Heute wird Ökonomie als etwas geradezu natürlich Gewachsenes betrachtet, wir aber gingen immer davon aus, dass wirtschaftliche Prozesse gesellschaftlich konstruiert sind“, sagt Boyer. Das Fundament, in dem die jeweilige, in einer bestimmten Epoche gerade evidente kapitalistische Konstruktion verankert ist, besteht für Regulationisten aus staatlichen Institutionen und Apparaten, sozialen Beziehungen, bestimmten Formen des Massenkonsums und einem die Epoche prägenden Lebensstil: „Alle diese Elemente machen das aus, was wir als Regulationisten zu einem bestimmten Zeitpunkt als aktuelle Ausformung des Kapitalismus begreifen.“

»Regulationisten verstehen den Kapitalismus als ein ökonomisch-politisches System, das sich in einem andauernden endogenen Veränderungsprozess befindet.« 

Ein System, das konstruiert ist, lässt sich also auch umbauen, das heißt politisch gestalten – vorausgesetzt, man versteht seine ihm immanenten Funktionslogiken. Und so wurde für Robert Boyer die Regulationstheorie zur Symbiose seiner aktivistischen Existenz als 68er und seinem wissenschaftlichen Interesse für den dem Kapitalismus inhärenten historischen Wandel. „Ich habe also begonnen, das Finanzsystem zu analysieren und war überrascht: Es war schwieriger zu verstehen als die Physik.“ Und so blieb Boyer siebenunddreißig Jahre lang am CEPREMAP, bis zu seiner Pensionierung 2008. Ab 1982 war er zudem Professor und Studiendirektor an der École des hautes études en sciences sociales in Paris, einer Hochschule, an der immer wieder sehr prominente Namen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften forschten und lehrten: Vom Historiker Fernand Braudel über den Soziologen Pierre Bourdieu bis jüngst zum Ökonomen Thomas Piketty. Seit 2012 ist Boyer nun assoziierter Forscher am ebenfalls in Paris angesiedelten Institut des Amériques.

Während Boyer zu Beginn seiner akademischen Laufbahn noch gute Beziehungen in die Politik unterhielt – er war unter anderem ökonomischer Berater im französischen Bauministerium, Experte in der Agentur für Planung und Rechercheur im Finanzministerium – fühlt er sich diesbezüglich heute eher isoliert. Boyer kritisiert, dass für politische Ökonomen, die gewisse Ansichten des Mainstreams der Wirtschaftswissenschaften nicht teilen, in den Beraterstäben der europäischen Regierungen der Gegenwart kein Platz mehr ist. Zudem gilt Frankreich, in den 1960er-Jahren noch der Star unter den europäischen Ökonomien, heute als beinahe unreformierbar. Das ökonomische Denken, das hinter der Idee der „gemischten Volkswirtschaft“ der sechziger Jahre stand, bleibt deshalb vielerorts diskreditiert. Und so hat sich in der westlichen Wirtschaftspolitik der letzten vierzig Jahre die angelsächsische Konkurrenz mit ihrer Krisenanalyse der 1970er-Jahre durchgesetzt. Die Orthodoxen, die Neoliberalen dominieren heute die wirtschaftlichen Expertenkomissionen der allermeisten westlichen Regierungen: „Wir haben seit den 1970er-Jahren eine Art Naturalisierung der Ökonomie erlebt“, sagt Robert Boyer, der Konstruktivist: „Die gegenwärtige Ausgestaltung der Wirtschaft wird in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr als etwas sozial konstruiertes begriffen, sondern als natürlich gewachsen hingenommen. Man glaubt nicht mehr an ihre politische Veränderbarkeit.“

Das mache sich auch in der Wissenschaft bemerkbar. Boyer beklagt eine „Balkanisierung der Ökonomie“, einen Zerfall der Disziplin in viele, nicht mehr interagierende Teilbereiche, der Blick fürs systemische Fundament gehe verloren. Boyer stellt zudem ein Unverständnis gegenüber den Lehren anderer Sozialwissenschaften fest, eine Isolierung von der Emphase der Geisteswissenschaften für Ambivalenzen und die symbolische, weil sprachlich vermittelte Herstellung von Kultur und Gesellschaft. So verschließe sich die Wirtschaftswissenschaft dem Blick auf gesellschaftliche Prozesse, die mit rein ökonomischen Begriffen nicht zu fassen sind. „Für die allermeisten meiner Kollegen ist ein Ökonom per definitionem unabhängig von allen anderen Disziplinen.“

Vorschläge aus den Wirtschaftswissenschaften zur Ausgestaltung einer bestimmten Wirtschaftspolitik seien nur auf der Grundlage des Prinzips der ökonomischen Rationalität möglich, das eigentlich umstritten sein müsste: „Ökonom sein heißt heute, ausschließlich in den Kategorien der Rationalität und des Marktes zu denken.“ Boyer sieht in dieser Fixierung der orthodoxen Wirtschaftswissenschaft auf die ökonomische Rationalität eine normative Annahme: „Alles Soziale und Politische wird aufs Ökonomische reduziert. Die ganze Profession ist auf diese Weise sozialisiert und es gibt einen inhärenten Mechanismus, der dieses Selbstverständnis immer wieder reproduziert. Die, die damit nicht einverstanden sind, flüchten in die Soziologie oder in die Geschichtswissenschaft. Es gibt aber eine Alternative: „Wir müssen eine neue politische Ökonomie der Gegenwart entwickeln.“

»Wir müssen eine neue politische Ökonomie der Gegenwart entwickeln.« 

Wie lebt es sich als Wissenschaftler, der mit dem Ziel begann, die Politik von der Ökonomie zu befreien und stattdessen die Ökonomisierung nicht nur der Politik, sondern auch der Wissenschaft erlebte? „Wir versuchten in der Tat, uns vom ökonomischen Joch zu befreien. Aber die Wirtschaft hat es geschafft, einen derartigen Überfluss zu produzieren, dass das ökonomische Joch gar nicht mehr als solches wahrgenommen wird. Sie können sich vorstellen, wie groß die Enttäuschung eines politischen Ökonomen über diese Entwicklung sein muss.“

Auch der Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008 hat aus der Sicht Robert Boyers an dieser neuen Unangreifbarkeit der ökonomischen Rationalität nicht viel geändert: „In einem Zeitraum von acht bis zwölf Monaten in den Jahren 2008 und 2009 spürte man eine neue Offenheit im ökonomischen Diskurs. Es wurde viel über die Rückkehr von Marx als dem Theoretiker des Kapitalismus geredet, von Keynes als dem Begründer der Makroökonomie, und von Minsky, dem brillanten Analytiker des Finanzkapitalismus. Es hieß, sowohl das Wirtschaftssystem wie auch die Wirtschaftswissenschaften würden neu aufgebaut, die Heterodoxie gewinne ihre Berechtigung zurück.“ Dann kam der März 2010, die Staatsschuldenkrise erreichte mit der drohenden Zahlungsunfähigkeit Griechenlands einen ersten Höhepunkt, der sogenannte EU-Rettungsschirm wurde aufgespannt, Austeritätspläne implementiert, mit dem sich die hochverschuldeten Länder an den Rändern der Eurozone gesund sparen sollten.

Wenn Robert Boyer über das institutionelle Gefüge der Eurozone spricht, beschreiben seine Hände große Bögen im Raum, verleiht seine Gestik den ausgedrückten Analysen Dreidimensionalität. Es scheint, als versuche Boyer verzweifelt, ein aus dem Takt geratenes Orchester der falsch aufgestellten europäischen Institutionen, geboren aus historischen Irrtümern, dirigierend wieder in Einklang zu bringen. „Es war schon 2010 klar, dass Griechenland seine Schulden nie wird zurückzahlen können. Anstelle der Austeritätspolitik hätten wir einen neuen Marshallplan entwerfen sollen. Es wäre viel einfacher gewesen, die griechischen Schulden zu restrukturieren, also zu erlassen.“

Der historische Fehler in der Konstruktion der Eurozone wurde gemäß Boyer aber schon viel früher begangen, noch zu Zeiten ihrer Gründerväter François Mitterand und Helmut Kohl. Das Ziel einer gemeinsamen Währung war in erster Linie ein politisches: „Die beiden wollten auf der Grundlage einer gemeinsamen europäischen Währung die politische Integration vorantreiben.“ Doch heute zeigt sich, sie erreichten – Treppenwitz der europäischen Integrationsgeschichte – das Gegenteil: Die gemeinsame Währung, in deren Konstruktion kein Platz für regionale Eigenheiten verschiedener politischer Ökonomien bleibt, spaltet das ursprüngliche Friedensprojekt Europa heute vielmehr als dass es die Nationen näher zusammenrücken lässt. „Eine gemeinsame Währung sollte nie der Beginn eines Integrationsprozesses sein, sondern dessen Abschluss“, meint Boyer.

»Eine gemeinsame Währung sollte nie der Beginn eines Integrationsprozesses sein, sondern dessen Abschluss.« 

Da man in der Eurozone achtzehn unterschiedliche ökonomische Systeme homogenisieren wollte, anstatt nach ökonomischen Mechanismen zu fragen, die der Heterogenität Europas und seiner Volkswirtschaften gerecht werden würden, treibt man die Nationen nun erst recht auseinander: „Alle sollten so funktionieren wie die Deutschen“, sagt Boyer, „Exportweltmeister sein. Aber das geht nicht! Dann hätten wir in Europa einen völlig unhaltbaren Handelsbilanzüberschuss – viel mehr noch als in China!“ Was Europa hätte zusammenbringen sollen, hat es nun also gespalten. Boyer ist nicht der einzige, der jetzt eine Renationalisierung, ein Jahrzehnt der wirtschaftlichen Stagnation und des politischen Nationalismus befürchtet. Wie tröstet sich jemand, von dessen theoretischem Denken die Praxis nichts wissen will: „Ich finde bei Michel Foucault Zuflucht: ‚Travailler c’est entreprendre de penser autre chose que ce qu’on pensait avant.‘“ – Arbeiten heißt, den Versuch zu unternehmen, anders zu denken als zuvor.

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