
Unsicherheit, Performativität und Geldpolitik
Benjamin Braun
Die Europäische Zentralbank (EZB) erhöhte seit den 2000er-Jahren und insbesondere unter Mario Draghi schrittweise sowohl die Frequenz als auch den Informationsgehalt ihrer makroökonomischen Projektionen. Parallel legte sie ihren zinspolitischen Kurs zunehmend über längere Zeiträume hinweg fest. Mit ihrer forward guidance versucht die EZB, die Reichweite ihres Erwartungsmanagements weiter in die Zukunft auszudehnen und somit größeren Einfluss auch auf den langfristigen Marktzins auszuüben. Doch auch dies ist alles andere als die Reflexion einer erkennbaren Zukunft.
Zentralbanking ist schwierig. Die Analyse von Millionen von Daten, die Simulation ökonomischer Modellwelten, die Steuerung von Zukunftserwartungen – eine intellektuelle und organisatorische Aufgabe von geradezu aberwitziger Komplexität. Ein Glück, dass diese Aufgabe an bestens ausgebildete Makroökonominnen und Makroökonomen delegiert ist. Schließlich versteht die Wirtschaft niemand besser als ausgewiesene Fachleute wie Janet Yellen oder Ben Bernanke. Was allerdings wäre, wenn selbst Yellen und Bernanke nicht wüssten, was sie tun? Hierbei handelt es sich keineswegs um ein abwegiges Gedankenexperiment, sondern – angesichts der Machtfülle der Zentralbanken – um eine wissenschaftliche Frage von unmittelbarer gesellschaftlicher Relevanz.
Friedrich Hayek argumentierte, dass Wirtschaftssteuerung notwendigerweise auf Wissensanmaßung beruhe (pretence of knowledge). Zentralen Steuerungsversuchen fehle, so Hayek, das dezentral in der Marktwirtschaft vorhandene Wissen. Dies ist das klassische Hayek’sche Dilemma des Zentralplaners. Denn dass sich die Modelle der Zentralbanken im Rückblick oft als falsch herausstellen, gestehen Zentralbanker selbst ein, seit Herbst 2017 etwa Daniel Tarullo von der amerikanischen Federal Reserve und Vítor Constâncio von der Europäischen Zentralbank. Doch hat Hayek auch Recht, wenn er schlussfolgert, dass die Wirtschaftssteuerung aufgrund dieser Wissensanmaßung unweigerlich zum Scheitern verurteilt sei?
Eine erwartungssoziologische Perspektive, welche die grundsätzliche Unsicherheit der Zukunft betont, muss Hayeks Prämisse von der Wissensanmaßung akzeptieren. Seine Schlussfolgerung ist jedoch zurückzuweisen: Geldpolitik kann auch dann funktionieren, wenn sie auf falschen Modellen beruht – wenngleich mit unvorhergesehenen Konsequenzen. Das Kernkonzept dieser Analyse ist die Performativität wirtschaftlicher Modelle. Diese messen nicht lediglich die empirisch vorgefundene Wirklichkeit, sondern bringen diese zu einem gewissen Grad selbst erst hervor.
Die Gründe für diese Performativität liegen in der Zukunftsorientiertheit wirtschaftlichen Handelns sowie in der Unsicherheit dieser Zukunft. Um heute wirtschaftliche Entscheidungen treffen zu können, müssen Wirtschaftssubjekte einen Weg finden, ihre Erwartungen über das Morgen hinaus zu koordinieren. Doch wie diese Zukunft aussehen wird, kann niemand mit Sicherheit vorhersagen.
Hier nun kommt das geldpolitische Paradigma der Zentralbanken ins Spiel: Ein von den besten Ökonominnen und Ökonomen erdachtes Modell der Wirtschaft, gefüttert mit den besten Daten für die präzisesten Vorhersagen, eignet sich hervorragend als Orientierungspunkt für die Erwartungsbildung der Wirtschaftssubjekte. Ob Modell und Vorhersagen korrekt sind, ist irrelevant für ihren performativen Erfolg. Es ist gemeinhin unmöglich, erfolgreiche Erwartungssteuerung in Echtzeit von gefährlichem „group think“ zu unterscheiden.
Die erwartungssoziologische Analyse zeigt, dass die Hayek’sche Wissensanmaßung nicht etwa eine Anomalie, sondern vielmehr eine notwendige Voraussetzung der modernen Geldpolitik darstellt. Anders als bei Hayek folgt daraus aber nicht die radikale Forderung, makroökonomische Steuerungsversuche aufzugeben, sondern der pragmatischere Vorschlag, Jens Beckerts und Richard Bronks Uncertain Futures zur Pflichtlektüre für Zentralbanker zu machen.