Die Ökonomie soziologisch entschlüsseln

Marion Fourcade – Forscherinnenporträt

12. Mai 2021
Marion Fourcade, Professorin für Soziologie an der University of California, Berkeley, und Direktorin des an der Universität angesiedelten Instituts Social Science Matrix, ist Gründungsdirektorin des Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies (MaxPo) und seit 2019 Auswärtiges Wissenschaftliches Mitglied des MPIfG. Ein Schwerpunkt ihrer Forschung ist die Rolle der ökonomischen Wissenschaft in modernen Gesellschaften.

Wein, Wirtschaftswissenschaften, Digitalisierung, Kredit – auf den ersten Blick verbindet wenig die vielfältigen Themen der Soziologin Marion Fourcade, die an der University of California in Berkeley forscht. Aber wer sich näher mit ihrem Werk beschäftigt, entdeckt den roten Faden, der sich durch ihre gesamte wissenschaftliche Arbeit zieht: Klassifizierungssysteme aller Art. „Klassifizierung ist der wichtigste Baustein jedes soziologischen Ansatzes“, sagt Fourcade darauf angesprochen und verweist auf Größen ihrer Disziplin aus ihrer französischen Heimat wie Pierre Bourdieu, Michel Foucault oder Luc Boltanski. Die Wissenschaftlerin faszinieren besonders zwei Fragen im Kontext von Klassifizierungssystemen: Wie schaffen sie neue Wirklichkeiten und wie wirkt sich dies auf die Individuen aus? Sie verdeutlicht dies anhand der von ihr untersuchten Scoring-Systeme für Kreditkunden. Eigentlich führten Finanzdienstleistungsunternehmen sie ein, um damit die Kreditwürdigkeit ihrer Kunden zu bewerten. Aber mittlerweile verlangten in den USA auch andere Akteure Einblick in diesen Kreditscore und berücksichtigten sie bei Entscheidungen, etwa Vermieter oder Versicherer. Möglicherweise bekäme dann jemand mit einem schlechten Kreditscore auch eine Wohnung nicht vermietet oder könne eine bestimmte Versicherung nicht oder nur teurer abschließen. Das sei umso bemerkenswerter, weil ein schlechter Kreditscore nicht zwangsläufig aus einer schlechten Bonität resultieren müsse, sagt Fourcade. Denn für eine gute Kredithistorie sei es in den USA beispielsweise wesentlich, dass jemand bereits mehrere Kreditkarten habe oder anderweitig schon Kredite bekommen habe. In diesem Klassifizierungssystem schneidet dann möglicherweise jemand schlecht ab, der sich nach traditionellem europäischen Verständnis vorbildlich verhält, also Geld spart, bevor er größere Ausgaben tätigt – einfach weil es nicht genug Informationen über die Person gibt.

Für Aufsehen sorgte Fourcades Forschung zu den Wirtschaftswissenschaften. So griff Paul Krugman in seiner Kolumne in der New York Times 2014 eine Studie auf, die Fourcade mit Kollegen über die Struktur der akademischen Wirtschaftswissenschaften veröffentlicht hatte. Sie bescheinigten erfolgreichen Ökonomen, intellektuell arrogant zu sein, weil sie in einem sozialen Gefüge lebten, das sehr hierarchisch sei, mit steilem Prestigegefälle und weitverbreiteter Einigkeit darüber, was gute Arbeit ausmache und wer sie leiste, und es gebe nach professoralen Maßstäben ziemlich große Belohnungen für den Aufstieg an die Spitze. So fasste der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften und Kolumnist Krugman die Studienergebnisse zusammen und pflichtete den drei Autoren dann bei: „Ich habe dieses Spiel gespielt und dieses Leben gelebt.“

»Klassifizierung ist der wichtigste Baustein jedes soziologischen Ansatzes.«

Aber wie kam sie überhaupt zu dem Forschungsgegenstand der Ökonomie als Wissenschaft? Schon als junge Studentin beschäftigte sie sich mit Ökonomen und schrieb ihre Masterarbeit über Albert Hirschman, „eines meiner intellektuellen Vorbilder, wegen seines breit angelegten Denkens“. Daran knüpfte sie an, als sie in die USA ging und in Harvard promovierte. Ihre Neugier für die Wirtschaftswissenschaften als soziologisches Untersuchungsprojekt förderte aber auch der Austausch mit ihrem Mann, der an seiner Promotion in Ökonomie arbeitete. Die Ökonomie als Wissenschaft mit ihren mechanischen Modellen übte auch auf Fourcade eine gehörige Anziehungskraft aus, erinnert sie sich. Aber hatten die Ökonomen nicht gleichzeitig einen „faszinierenden sozialen Zaun errichtet“, hinter dem sie „mit ihrem Modell mit seiner perfekten Mechanik hantierten“? Gab es nicht einen erheblichen Abstand der ökonomischen Modelle zur realen Welt? Und welche Relevanz konnte die Ökonomie unter diesen Umständen überhaupt für sich beanspruchen? Fourcade machte sich auf die Suche nach Antworten. Sie sah dafür auch Bedarf, weil sich kaum jemand aus einer solchen soziologischen Perspektive der Ökonomie annahm. Sie tauchte tief ein. Es war eine Mammutaufgabe, hundert Jahre Geschichte der Wirtschaftswissenschaften in den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland aufzuarbeiten. Sie fuhr in die vier Länder und führte zahlreiche Interviews. Am Ende musste Deutschland angesichts der Stofffülle außen vor bleiben, Teile der Studienergebnisse hierzu erschienen später separat in einem Zeitschriftenaufsatz. Im Jahr 2009 erschien ihr Buch Economists and Societies: Discipline and Profession in the United States, Britain and France, 1890s–1990s.

Ganz besonders interessiert sie die Macht der ökonomischen Wissenschaft in modernen Gesellschaften. Warum hört die Politik häufig auf wirtschaftswissenschaftlichen Rat? Ökonomen könnten aufgrund ihrer mechanischen Modelle klare Ratschläge geben, sagt Fourcade. Außerdem verspreche ihr Modell eine Aussage darüber, wie die Wohlfahrt in einem Land gesteigert werden könne. „Beide Dimensionen sind sehr attraktiv für die Politik“, sagt Fourcade. Zudem hätten die Wirtschaftswissenschaften einiges getan, um ihre herausgehobene Stellung in der Öffentlichkeit zu untermauern, etwa den Ausbau von Systemen, um ihre Ergebnisse zu legitimieren. Eine zentrale Rolle komme Zeitschriften mit Peer Review oder Rankingsystemen zu. Von allen sozialwissenschaftlich Forschenden würden außerdem nur die aus den Wirtschaftswissenschaften geehrt. Gestiftet hat diesen Preis aber nicht Alfred Nobel, sondern erst später die Schwedische Nationalbank. All das habe mächtig das Selbstbewusstsein des wissenschaftlichen Nachwuchses in der Ökonomie gefördert. Anfang der 2000er-Jahre stimmten laut einer Umfrage 77 Prozent der Promovierenden der Wirtschaftswissenschaften in Eliteprogrammen der Aussage zu, dass „die Wirtschaftswissenschaften die wissenschaftlichsten der Sozialwissenschaften sind“. Viele Ökonomen reden bis heute ganz selbstverständlich von der Königsdisziplin der Sozialwissenschaften.

„Bücher hatten einen großen Einfluss auf meine Studienentscheidung“, sagt Marion Fourcade, etwa Pierre Bourdieu mit Distinction, einem soziologischen Bericht über den Zustand der französischen Kultur. „Du liest einige gute Werke und denkst, das ist es, was du machen möchtest“, erinnert sie sich. Sie studierte Soziologie und Ökonomie in Paris und machte ihren Master in Social Sciences an der École des Hautes Études en Sciences Sociales. Sie wechselte nach Harvard und erwarb dort 2000 mit ihrer Arbeit The National Trajectories of Economic Knowledge ihren PhD. Sie lehrte an der New York University und in Princeton, bevor sie 2003 in Berkeley ihre wissenschaftliche Heimat fand und sich dort sichtlich wohl fühlt. Warum? Anders als in Frankreich gebe es in den USA keine weitgehende Trennung von Forschenden und Lehrenden, das Verhältnis zwischen beiden stimme für sie. „In gewisser Weise ist hier institutionell das Beste aus beiden Welten umgesetzt“, sagt sie. Begeistert ist sie von der großen Vielfalt an ihrer soziologischen Fakultät. Mit fünfundzwanzig Forscherinnen und Forschern sei sie nicht einmal besonders groß, aber geforscht werde beispielsweise zu Autoritarismus, Neoliberalismus im Mittleren Osten, Einwanderung oder Organisationen. „Ich liebe diese breite Palette von Fragen und den Austausch untereinander“, sagt Fourcade, die gerne und regelmäßig in Forschungsteams arbeitet, mit Nachwuchswissenschaftlerinnen genauso wie mit alten Weggefährten. So schreibt sie mit dem irischen Soziologen Kieran Healy von der Duke University an dem Buch The Ordinal Society. Es geht um neue Formen der sozialen Schichtung und Moral in der digitalen Wirtschaft. Da war auch Thema des Vortrags, den sie 2016 als damalige Präsidentin der Society for the Advancement of Socio-Economics (SASE) hielt. Es gebe immer eine moralische Ökonomie neben der realen Ökonomie des materiellen Austauschs, begann sie ihren Vortrag, aber meistens sei diese stillschweigend in den Alltag eingewoben als Hintergrundbedingung der wirtschaftlichen Ordnung. Sie zog auch eine verblüffende Parallele zwischen Maschinenarbeitern in Fabriken Anfang des 19. Jahrhunderts und Teenagern, die heutzutage in sozialen Medien aktiv sind. „In beiden Fällen ist das System zielgerichtet darauf ausgelegt, dass die Subjekte die Maschine mit dem füttern, was sie will.“ Sie arbeite mittlerweile viel öfter theoretisch, erzählt sie, und wirkt fast ein bisschen überrascht, wie sehr sie davon gepackt worden ist. Aber sie ist auch der Empirie treu geblieben, wo sie mit ihren Fragestellungen regelmäßig am Puls der Zeit ist.

»Bücher hatten einen großen Einfluss auf meine Studienentscheidung. Du liest einige gute Werke und denkst, das ist es, was du machen möchtest.«

Aktuell beschäftigen sie drei empirische Projekte: Sie untersucht in ihrem Heimatcounty, wie der zunehmende Einsatz von pädagogischen Techniktools und Online-Lernen im Zuge der Pandemie das amerikanische öffentliche Bildungswesen verändert. Sie geht anhand von Twitterdaten der Frage nach, ob es während der Pandemie zu einer Polarisierung der Menschen gekommen ist. Sie forscht zu Wein, für sie ein „einzigartiges Forschungsobjekt“, weil man einerseits ein „objektives Klassifizierungssystem“ habe, welches auf dem Flaschenetikett stehe. Gleichzeitig gebe es aber einen „sehr subjektiven Aspekt“, weil es auch darum gehe, wie ein Wein jemandem munde. Sie beschäftigt sich mit der Verbindung zwischen der objektiven Klassifizierung von Wein und der subjektiven Geschmacksempfindung. Dabei sei sie selbst gar keine „Geschmacksfanatikerin“ beim Wein, sagt sie und lacht bei dem Hinweis, ein solches Thema könne wohl nur einer Forscherin aus Frankreich in den Sinn kommen.

Obwohl sie seit bald dreißig Jahren in den USA lebt, sind ihr lebendige Beziehungen nach Europa wichtig, privat zu ihrer Familie nach Frankreich genauso wie beruflich zu geschätzten Kollegen wie Jens Beckert am MPIfG. Wo fühlt sie sich zu Hause? „Mein Herz schlägt französisch“, sagt sie. Mancher Kollege dachte sogar 2012, sie würde dorthin zurückkehren. Denn da baute sie mit Cornelia Woll das Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies (MaxPo) in Paris auf. Das gemeinsame Forschungszentrum vom MPIfG und der Universität Sciences Po erforscht die Auswirkungen zunehmender Liberalisierung, technischen Fortschritts und kultureller Veränderungen auf westliche Industriegesellschaften. „Das war unglaublich spannend“, sagt Fourcade, vor allem die gemeinsame Arbeit mit Cornelia Woll. Aus dem ursprünglich geplanten einen Jahr wurden zwei Jahre. Aber ihren Mann und ihre beiden Kinder zog es zurück in die USA, und dorthin gingen sie dann auch wieder zurück. Als Associate Fellow blieb sie dem MaxPo verbunden. Gerade baut sie in Berkeley – inspiriert vom MaxPo – ein Forschungszentrum auf und zukünftig wird sie die Beziehung zur Max-Planck-Gesellschaft und dem MPIfG vertiefen, als dessen Auswärtiges Wissenschaftliches Mitglied.

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