Der Preis der Unsicherheit

Mechthild Zimmermann

31. Dezember 2017

Europa befindet sich im Dauerkrisenmodus: Zur Schuldenkrise, die seit Jahren andauert, kommt inzwischen ein Mangel an Solidarität und Vertrauen hinzu. Den Ursprung der instabilen Lage sehen einige Sozialwissenschaftler in der marktfördernden Ausrichtung der Politik ab den 1970er-Jahren. Am Max Planck Sciences Po Center in Paris geht das Team um Jenny Andersson und Olivier Godechot der Frage nach, wie Gesellschaften mit Instabilität umgehen.

Deutschland im Jahr 2016. Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Großzügige Tarifabschlüsse lassen die Gehälter wachsen, auch die Renten steigen spürbar. In den öffentlichen Haushalten steht mehr Geld zur Verfügung als jemals zuvor.

Deutschland im Jahr 2016. Angst vor wirtschaftlichem Abstieg, Neid und Misstrauen gegenüber denen „da oben“ in Politik, Wirtschaft und Medien prägen einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft. Im Internet kursieren Verschwörungstheorien, Politiker werden bedroht. Deutschland ist keine Ausnahme. In vielen Teilen Europas wachsen Unsicherheit und Frustration und mit ihnen die Sehnsucht nach einfachen politischen Antworten, wie sie populistische Politiker verschiedener Couleur liefern. Woher kommen die Enttäuschung und die Verunsicherung?

In dem Wissen, dass es keine einfache Antwort auf diese Frage gibt, befassen sich die Historikerin und Politologin Jenny Andersson und der Wirtschaftssoziologe Olivier Godechot vor allem mit den ökonomischen Ursachen der gesellschaftlichen Verunsicherung. Die beiden sind Direktoren des Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies in Paris. Das Center, kurz MaxPo, ist ein gemeinsames Projekt des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung mit der sozialwissenschaftlich ausgerichteten französischen Universität Sciences Po Paris. Die zentrale Frage von MaxPo lautet: Wie reagieren vom Markt geprägte Gesellschaften auf die Instabilität? Und wie hängt die wachsende soziale Ungleichheit damit zusammen?

Mit dem Begriff „Instabilität“ bündeln die Forscher mehrere zusammenhängende Phänomene. Ausgangspunkt ist die wirtschaftliche Instabilität, die sich nicht nur in Konjunkturzyklen äußert, sondern auch in Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt mit Arbeitsverdichtung, Termindruck und steigenden Erwartungen an die Flexibilität der Beschäftigten. Steigender Druck und die Angst, den Job zu verlieren, führen zu sozialer Instabilität: zu Unsicherheit, Abstiegsängsten und dem Gefühl, dass der eigene Platz in der Gesellschaft nicht mehr sicher ist. Auch in Deutschland wächst derzeit die Zahl prekärer Arbeitsverhältnisse, also zeitlich befristeter Stellen, Leiharbeit und Minijobs.

Für die Politik wiederum ergibt sich seit den 1980er-Jahren aus den neuen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ebenfalls eine instabile Situation: Die Globalisierung macht Teile der Wirtschaft mobiler und etwa deren Besteuerung schwieriger. In der Folge verschulden sich Staaten, um ihre Aufgaben zu erfüllen. In den westlichen Industrieländern kam es durch die Ölpreiskrise in den 1970er-Jahren erstmals zu einer Stagnation des Wirtschaftswachstums bei gleichzeitig hoher Inflation und hoher Arbeitslosigkeit. Arbeitslosenzahlen stiegen dramatisch, Steuereinnahmen brachen ein, Staaten mussten Ausgaben kürzen, um Haushaltsdefizite in den Griff zu bekommen. Zur Lösung der Krise setzten sich wirtschaftsliberale Ansätze durch. „Das waren wirtschaftliche Dogmen, die etwa die staatlich organisierte Daseinsvorsorge als Hindernis für eine dynamische Marktentwicklung sahen“, sagt Jenny Andersson.

»Die Gesellschaft ist vielfältiger, aber auch unübersichtlicher geworden.«

Inzwischen wird deutlich, dass auch der Markt nicht alle Bedarfe deckt. Defizite zeigen sich etwa im Gesundheitswesen oder im Rentensystem. Insgesamt entpuppte sich die stabile soziale und wirtschaftliche Lage der Nachkriegsjahrzehnte als Ausnahmeerscheinung in der Geschichte. Im kollektiven Gedächtnis blieben die Standards dieser Zeit jedoch als Anspruch erhalten – ein Grund dafür, dass sich viele Menschen seither vom Staat im Stich gelassen fühlen. Zugleich wandelt sich die Gesellschaft fundamental: Klassische Bindungen schwinden, Möglichkeiten, seinen Lebenslauf zu gestalten, sind zahlreicher denn je, Zuwanderung führt zu einer Vielzahl von Kulturen und Religionen. Die Gesellschaft ist vielfältiger, aber auch unübersichtlicher.

Die Politik ist von den Finanzmärkten abhängig

Die Finanzkrise ab 2007/2008 hat die wirtschaftliche und politische Lage weiter destabilisiert. „Sie hat gezeigt, wie abhängig die Politik, wie abhängig wir alle von den Finanzmärkten sind“, sagt Andersson. Das zeige sich etwa, wenn Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit von Staaten bewerten und auf diese Weise mitbestimmen, welche Handlungsspielräume eine Regierung hat. Diese Abhängigkeit nennen Forscher „Finanzialisierung“. Deren Hauptmerkmale sind die wachsende Bedeutung der Finanzindustrie und der Einfluss ihrer Interessen auf die Politik und die reale Wirtschaft.

Olivier Godechot, der zweite MaxPo-Direktor, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Auswirkungen der Finanzialisierung auf die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft zu untersuchen. In einem Vergleich von achtzehn OECD-Staaten analysierte er über einen Zeitraum von 1970 bis 2011, welche Rolle die Finanzmärkte und ihre Aktivitäten für den Anstieg der Ungleichheit in diesen Ländern spielte: „Der Finanzsektor ist deutlich gewachsen, sein Anteil am Bruttoinlandsprodukt hat sich durchschnittlich von vier auf fast sieben Prozent erhöht.“ Nach den Auswertungen des Forschers folgt aus dem Anstieg der Finanzmarktaktivitäten eine Zunahme der sozialen Ungleichheit. „Vor allem die außerordentlich hohen Gehälter und Bonuszahlungen im Finanzbereich haben dazu geführt, dass die Kluft zwischen Arm und Reich wächst“, sagt der Wirtschaftssoziologe.

Blickt man auf die regionale und auch auf die persönliche Ebene, macht sich der Einfluss der Finanzialisierung ebenfalls bemerkbar: Godechot hat herausgefunden, dass besonders die großen Finanzzentren Treiber für die soziale Ungleichheit innerhalb eines Landes sind. Dort konzentrieren sich die landesweit höchsten Einkommen, während sich in diesen Zentren zugleich die Schere zwischen Spitzenverdienern und Menschen mit prekärem Einkommen besonders weit öffnet.

Jenny Anderssons zentrales Thema sind Prognosen im politischen und wirtschaftlichen Bereich. Sie bestimmen ganz wesentlich politische Entscheidungen. „Prognosen sind ein paradoxes Phänomen“, sagt sie. „Einerseits weiß man nie, ob Vorhersagen wirklich eintreffen, so tragen sie zur Unsicherheit bei. Andererseits brauchen die Politik und gerade auch die Finanzwirtschaft Vorhersagen, um Erwartungen zu kanalisieren. Und auf diese Weise können sie wiederum stabilisierend wirken – manchmal auch als Selffulfilling Prophecy.“ Als die Finanzkrise akut wurde, habe man das gut beobachten können: „Für die Finanzmarktinstitutionen musste sichergestellt werden, dass ihre Solvenz nicht gefährdet würde“, erklärt Andersson. „Daher war auch die erste Reaktion auf die Finanzkrise, die Ängste auf den Finanzmärkten zu beruhigen und zu verhindern, dass die Akteure irratonal reagieren und dadurch die Krise weiter verschärfen.“

Andersson kritisiert, dass die eigentlichen Ursachen der Krise nicht angetastet wurden: Die Macht der Finanzmarktakteure, die Dominanz der Märkte und die Erwartungen an dauerhaftes Wachstum – all das sei erhalten geblieben. „Den Bürgern wird gesagt, dass der Staat sparen und kürzen muss, um für die Zukunft Stabilität zu gewährleisten“, sagt Andersson. „In Wirklichkeit erfüllt die Sparpolitik vor allem die Erwartungen der Finanzmärkte – die werden stabilisiert. Die Sparpolitik ist ein Dogma, und das macht es schwierig, sozioökonomische Alternativen überhaupt zu diskutieren. Gerade in der Sozial- und Wirtschaftspolitik bieten die alten Volksparteien keine Alternative zur Dominanz der Märkte.“

»Das Problem ist, dass die Wirtschaft inzwischen die Art und Weise dominiert, wie wir überhaupt über die Zukunft denken können.«

“Gerade in der Sozial- und Wirtschaftspolitik bieten die alten Volksparteien keine Alternative zur Dominanz der Märkte.“ Als Historikerin hat Andersson sich intensiv mit der Geschichte der Sozialdemokratie in Europa befasst. Die sozialdemokratischen Parteien hätten in den 1990er-Jahren das Vertrauen ihrer Wählerschichten dadurch verloren, dass sie Grundsätze wie Umverteilung und soziale Absicherung zugunsten marktkonformer Ziele aufgaben.

Krisen können die Politik positiv verändern

Viele ziehen inzwischen Parallelen zu den 1930er-Jahren und den Konsequenzen, die aus der damaligen Krise und der wachsenden Ungleichheit folgten. Jenny Andersson plädiert als Historikerin dafür, die Geschichte differenziert zu betrachten und auch aus positiven Beispielen zu lernen: „Die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre hat etwa in den USA dazu geführt, dass die Politik Strategien entwickelt hat, negative Auswirkungen von Marktmechanismen einzudämmen: mit aktiver Arbeitsmarktpolitik und mit sozialstaatlichen Einrichtungen, welche die Solidarität zwischen den Bevölkerungsschichten gefördert haben.“

Olivier Godechot weist darauf hin, dass die Arbeit am Center dazu beiträgt, die Ursachen ebenso wie die Auswirkungen zunehmender Instabilität aufzudecken. Es geht darum, ein klareres Bild der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge zu bekommen – eine wesentliche Voraussetzung, um neue Ansätze zu entwickeln und damit den Populisten aller Länder etwas entgegenzusetzen.

Max Planck Center

Max Planck Center verbinden Max-Planck-Institute mit den weltweit besten Forschungseinrichtungen. Sie schaffen eine Plattform, auf der die Wissenschaftler und ihre internationalen Partner Kenntnisse, Erfahrungen und Expertise zusammenbringen und gemeinsam die Forschung vorantreiben können. Ziel ist, den Austausch junger Wissenschaftler zu fördern, gemeinsame Workshops zu veranstalten und gegenseitig den Zugang zu technischen Einrichtungen, Geräten und Bibliotheken zu eröffnen. Die Center sorgen auch dafür, dass die Kooperationen sichtbarer werden und die Max-Planck-Gesellschaft an den jeweiligen Standorten an Bekanntheit gewinnt. Derzeit gibt es sechzehn Center in Europa, Israel, den USA, Kanada, Indien, Japan und Südkorea.

Das Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies (MaxPo) in Paris untersucht die Auswirkungen zunehmender Liberalisierung, technischen Fortschritts und kultureller Veränderungen auf die Stabilität westlicher Industriegesellschaften. Dabei vereint es ein breites Spektrum an Forschungsansätzen von der Mikroebene mit der Frage, wie einzelne Gruppen und Individuen mit den wachsenden Unsicherheiten umgehen, bis zur Makroebene, also großen gesellschaftlichen Trends. Die Zusammenarbeit zwischen MPIfG und Sciences Po im MaxPo wurde 2016 von der Max-Planck-Gesellschaft nach einer Zwischenevaluation als sehr erfolgreich bewertet. Somit kann das 2012 gegründete MaxPo seine Forschungsarbeit bis 2022 fortsetzen.

Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies

Gekürzte Fassung des Beitrags „Der Preis der Unsicherheit“ in MaxPlanckForschung 2/16, 70–75.

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