Ein vernünftiger Linker

Wolfgang Streeck - Forscherporträt

26. Oktober 2014

Er ist einer der wichtigsten Sozialforscher Deutschlands. Dem Kapitalismus hat er nie über den Weg getraut. Heute sieht er sich bestätigt.

Es ist der Lehman-Moment, der ihn bis heute nicht loslässt. Jener 15. September 2008, Symbol des weltweiten Zusammenbruchs der Finanzmärkte, hat aus einem Skeptiker einen tief enttäuschten Pessimisten gemacht. So ungefähr erzählt Wolfgang Streeck von Wolfgang Streeck. Seither sei Köln zum "Herz der Finsternis" in der deutschen Soziologie geworden, so erzählen es Kollegen von ihm. Köln, damit ist das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung gemeint, dessen Direktor Streeck ist. Die Kollegen, die hinab in die Kölner Finsternis blicken, tun dies mit bewunderndem, wenn auch leicht erschauderndem Respekt.

Wolfgang Streeck ist nicht der einzige Soziologe in Deutschland, dem man zuhören muss. Aber kein anderer Sozialwissenschaftler außerhalb der Ökonomie hat sich in seinem Leben so intensiv mit dem Kapitalismus beschäftigt wie dieser Mann. Kritisch natürlich, wie es sich für einen Soziologen gehört. Getraut hat er ihm nie, dem herrschenden Wirtschaftssystem. Ganz früh in seiner Entwicklung hat er, wie damals viele, mit dem Kommunismus geflirtet. Das gab sich bald. Doch Streeck behielt die Sorge, dass, wenn man nicht aufpasst, Demokratie und Gesellschaft von den Märkten beschädigt werden und die Wirtschaft deshalb in die Gesellschaft "eingebettet" (eines seiner Lieblingsworte!) bleiben müsse.

Der reine Markt ohne soziale und politische Korrektur, so Streecks Befürchtung, fliegt am Ende selbst den Marktfreunden um die Ohren. Lehman und die nachfolgende Finanz- und Europakrise sind ihm Beweis dafür. Dass es aber so schlimm kommt und so grundsätzlich werden würde, damit hat selbst Kapitalismuskritiker Streeck nicht gerechnet.

"Raubtiere" nennt er heute die Kapitalisten, die sich eine Weile lang als "Melkkühe" verkleidet haben: "Der Kapitalismus frisst lieber, als dass er sich melken lässt." Der Mann, der heute so tief pessimistisch ist, ist kein Misanthrop. Erst recht kein Savonarola, der zum Kreuzzug gegen den Kapitalismus aufriefe.

»Der Kapitalismus frisst lieber, als dass er sich melken lässt.«

Als Wissenschaftler strahlt Streeck eine freundliche, geradezu emotionslose Nüchternheit aus. Effizienz und Disziplin gehören zu seinem protestantisch geprägten Naturell (er wollte ursprünglich Theologie studieren); Ehrgeiz und elitären Anspruch an sich und die Studenten merkt man ihm an. Forschungsprojekte werden abgearbeitet. Sein Institut hat Streeck im Griff; von den strengen Visitatoren, die die Max-Planck-Leitung regelmäßig zur Evaluation schickt, gab es stets gute Noten. Darauf ist er stolz. Auf das neue Haus, das er dem Institut in der Kölner Südstadt gebaut hat, ist er ebenfalls stolz.

Ein Linker ist der Mann mit dem Schnäuzer immer gewesen, sogar ein "vernünftiger Linker", wie Streecks ungefähr gleichaltriger Kollege Hans Joas über ihn sagt. 1946 geboren, der erste Akademiker der Familie, wuchs er in den späten 60er Jahren universitär auf im Theoriegebäude der "Frankfurter Schule", wo er sich nie besonders wohl fühlte. Ziemlich abgehoben ist ihm das alles vorgekommen. Wissenschaft muss "welthaltig" sein, fand er damals schon.

Lieber hat Streeck sich bei den Gewerkschaften getummelt, weil die freundlich zu ihm waren, als er, Arbeiterkind, ein wenig verloren aus dem Siegerland in der Angeberunistadt Frankfurt angekommen war. Dass Gewerkschaften stark bleiben und den Kapitalismus in seine Schranken weisen sollen, ein sich durchziehender Gedanke, hatte bei Streeck immer eine biographische Komponente der Dankbarkeit. Darunter, dass die Gewerkschaften, einstmals starkes Gegengewicht gegen die Macht des Kapitals, in fast allen Ländern heute marginalisiert sind, leidet er nicht nur akademisch: "mehr oder weniger zerschollen, aber immer am hartbeinigen Widerstand der Arbeitgeber". Das kommt nicht wieder, weil die Kampfestradition nicht mehr erinnert wird. Es fehlt heute die Erfahrung des Erfolgs durch kollektives Handeln.

Bald wird der letzte Arbeiter pensioniert, der bei den Streiks für die 35-Stunden-Woche die IG-Metall-Fahne getragen hat: "Kampfgehärtete Bataillone gibt es nicht mehr." Für die Lokführer, die heute ihre Erpressungsmacht zeigen, zeigt er Verständnis: "ein Scheißberuf, meistens allein im stockdunklen Führerstand einer Güterzuglok".

»Kampfgehärtete Bataillone gibt es nicht mehr.«

Mit 16 ist Streeck in die SPD eingetreten. In den SDS allerdings sei er bewusst nicht gegangen. Warum? Wegen der Frauen. Die SDS-Frauen seien damals schon im Mercedes zur Uni chauffiert; und die SDS-Männer kamen von der feinen elitär-alternativen Odenwaldschule. Damit wollte Streeck nichts zu tun haben. Das hätte klassen- und frauenmäßig nicht gepasst. Inzwischen ist er aus der SPD ausgetreten. Daran ist der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin schuld, dem Streeck seinen Vorschlag, Schwangerschaften von Akademikerinnen staatlich zu prämieren, schwer übel nimmt. Nachdem die Partei zu feige war, Sarrazin rauszuwerfen, muss sie eben auf Streeck verzichten.

Streeck ging früh in die Vereinigten Staaten, er gehört zur ersten kosmopolitischen Forschergeneration in der deutschen Sozialwissenschaft: Er, der Amerika sehr gut kennt, mehrere Jahre an der Universität von Wisconsin-Madison lehrte und das Land irgendwie auch mag, ist spätestens dort ein Anwalt des "deutschen Modells" geworden - er wollte den "rheinischen Kapitalismus" retten, damit nicht nur die Shareholder das Sagen haben, sondern alle Stakeholder; Arbeitnehmer, Anteilseigner, Kunden, die ganze Community: die Interessen sollen in die Balance kommen. Das ist Streecks melancholische Skepsis, die wie ein Schleier über all seinen Schriften liegt. Früher, es muss in der von der Linken geschmähten Adenauerzeit gewesen sein, war der Kapitalismus schon mal menschlicher gewesen.

In Amerika fand Streeck in den 70er Jahren an der New Yorker Columbia-Universität seinen wichtigsten Lehrer: Amitai Etzioni, ein deutscher Jude, 1929 als Werner Falk in Köln geboren, der Streeck von der Bedeutung kollektiver Akteure für den Zusammenhalt von Gesellschaft und Gemeinschaft überzeugte. Etzioni wurde hierzulande bekannt als Vertreter des sogenannten Kommunitarismus, der sich als Gegengewicht zu einem einseitig individualistischen Liberalismus versteht. Darum ist es inzwischen still geworden.

1995 lockte die Max-Planck-Gesellschaft Streeck zurück nach Deutschland. Das noch relativ junge Institut, 1984 von den Altmeistern der deutschen Sozialwissenschaft Renate Mayntz und Fritz Scharpf gegründet, wollte immer schon die unselige akademische Parzellierung der Gesellschaftsforschung überwinden: In der Tradition von Max Weber, Werner Sombart oder Joseph Schumpeter gehören Soziologie, Ökonomie, Politologie und Recht eng zusammen.

Streeck hat sich dem ökonomischen Imperialismus der Wirtschaftswissenschaftler nie unterworfen; sonderlich interessiert für ihn haben sich die Ökonomen deshalb trotzdem oder gerade deswegen nicht - von Ausnahmen wie dem unberechenbaren Carl Christian von Weizsäcker abgesehen. Interdisziplinarität bleibt eine den akademischen Festveranstaltungen vorbehaltene Floskel. Streeck bewundert die Ökonomen für ihre Fähigkeit klinisch sauberer Modellbildung, während der Soziologe im wahren Leben stehe, das schmutzig ist. In Wirklichkeit hält er natürlich die soziologische Niederung dem ökonomischen Elfenbeinturm für haushoch überlegen.

Kurz vor der Jahrtausendwende gab es eine kurze Zeit der Verführung von der politischen Macht. Kanzler Gerhard Schröder machte Streeck in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit zum wissenschaftlichen Kopf eines Projekts, das "Bündnis für Arbeit" genannt wurde. Das war wie geschaffen für Streecks Utopie: die Hoffnung, Arbeitgeber, Gewerkschaften, Politik sitzen am runden Tisch und alles wird gut. Das "Bündnis" scheiterte krachend. Es war Streecks große Kränkung, seine Enttäuschung über die Chancen wissenschaftlicher Politikberatung. Streeck zieht sich, ein wenig schmollend, nach Akademia zurück. Schröder machte die Hartz-Reformen. Streeck sagt, die würden überschätzt.

»Die Welt ist viel aufregender als man selber.«

Nach dem Lehman-Schock profiliert Streeck sich als Euro-Kritiker von links. Darin ist er ziemlich einzigartig. Während für viele, vor allem deutsche Ökonomen die Einführung der Gemeinschaftswährung als planwirtschaftlich-zentralistisches Projekt zur Vergemeinschaftung der Geld-, Fiskal- und Sozialpolitik gilt, hält Streeck den Euro für eine neoliberale Biestigkeit. Das erstaunt, ist aber begründet: Maastricht entmachtet die nationalen Parlamente in ihrer Budgethoheit. Wenn sie überziehen, schickt Brüssel ihnen die Troika-Kommissare ins Haus. Die von Italien oder Frankreich lange Jahre geübte politisch-demokratische Freiheit, den sozialen Frieden durch Inflationierung und Abwertung der Währung herzustellen, verbietet der Euro.

Streecks Buch "Gekaufte Zeit", wo man das nachlesen kann, 2013 erschienen, wurde seine bei weitem populärste Schrift. Sie trug ihm zudem einen munteren Streit mit dem deutschen Oberlinken Jürgen Habermas ein: Streeck hält Habermas' Hoffnung, es werde eines Tages eine globale Kontrolle der globalen Märkte auf transnationaler Ebene geben, für die Illusion eines Traumtänzers. Lieber setzt Streeck auf die demokratische Kontrollmacht der Nationalstaaten - wofür ihn Leute wie Habermas am liebsten aus der linken Glaubensgemeinschaft ausschließen würden.

Es gibt berühmte Soziologen, die sich mit allem beschäftigen: mit der Religion, der Familie, der Ober-, Mittel- und Unterschicht, der Be- und Entschleunigung und was sonst noch alles in der sozialen Welt kreucht und fleucht. Streeck hat sich immer nur mit dem Kapitalismus befasst. Davon kann er nicht genug kriegen. Kommende Woche wird er emeritiert. Max-Planck-Forscher genießen das Privileg, in ihrem Institut auf Lebenszeit verbleiben zu dürfen, von Administration befreit. Er sei ein sich selbst gegenüber unaufgeregter Mann, sagt er. "Die Welt ist viel aufregender als man selber."

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