Der Mann für die Balance

Lucio Baccaro - Forscherporträt

17. Juni 2015

Dass die Politische Ökonomie heute in Zeiten von Finanz- und Schuldenkrisen sehr gefragt ist, zeigt sich an Lucio Baccaro. Der Italiener zählt zu den wichtigen Politökonomen unserer Zeit. Speziell in der Vergleichenden Politikwissenschaft hat er sich international einen Namen gemacht. Als Scholar in Residence am MPIfG in Köln nimmt er vor allem das deutsche Wachstumsmodell unter die Lupe.

So wie möglicherweise allen, die in Alberobello geboren sind, ist wohl auch Lucio Baccaro ein kämpferischer Geist in die Wiege gelegt worden. Dass der junge Baccaro schon früh angefangen hat, sein kritisches Denken zu trainieren, liegt zum einen sicher an seinem akademischen Elternhaus: Seine Mutter war Lehrerin, sein Vater Rechtsanwalt. Zum anderen ist es Alberobello – ein besonderer Ort mit einem besonderen Geist. Denn der Name der kleinen Stadt leitet sich vom lateinischen Silva Arboris Belli ab und heißt übersetzt so viel wie „Baum des Krieges“. Die 11.000-Seelen-Gemeinde an der Ferse des italienischen Stiefels in Apulien ist berühmt für ihre typischen kleinen Steinbauten mit ihren kegelförmigen Dächern – Weltkulturerbe der Unesco. In diesem einzigartigen Dorf mit seinen schmalen Gassen und Straßen wurde 1966 Pasquale Vincenzo „Lucio“ Baccaro als älterer von zwei Brüdern geboren. Seinen sympathisch streitbaren Geist hat sich der italienische Politökonom bis heute bewahrt. Seit Oktober 2015 ist der vielfach ausgezeichnete Wissenschaftler Scholar in Residence am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln.
 

Hegel, Kant und die Welt vor den Füßen

 Als heller Kopf bekam er schon früh Anerkennung: 1984 gehörte Baccaro zu den fünfundzwanzig besten Abiturienten in Italien. Für diese Leistung erhielt er vom italienischen Staatspräsidenten Sandro Pertini die seit 1961 vergebene Auszeichnung „Alfiere del Lavoro“ und eine damit verbundene Studienförderung. „Ich begann erst Jura zu studieren“, sagt Baccaro – ein Fach, das auch damals vielen Abiturienten die beste Voraussetzung für eine erfolgversprechende Karriere zu sein schien. „Doch schon nach einem halben Jahr brach ich das Studium ab. Ich fand es viel zu langweilig. Ich wollte unbedingt Philosophie studieren“, meint Baccaro heute und muss schmunzeln. Denn seine Eltern waren von seiner Entscheidung ganz und gar nicht angetan. „Sie wirkten sehr enttäuscht und prophezeiten mir, ich würde mit Philosophie niemals einen Job finden.“

»Ich wollte unbedingt Philosophie studieren.« 

Doch abhalten ließ er sich nicht. „Ich war von dem Fach begeistert. Ich las Hegel und Kant. Das war unglaublich aufregend.“ Aber auch schwierig. „Die Texte der Philosophie waren so anspruchsvoll, dass ich mir sicher war, dass alles, was später auf mich zukommen würde, doch leicht sein müsste“, erinnert sich Baccaro. Er sollte noch eines Besseren belehrt werden. Zwar schloss er 1989 sein Philosophiestudium an der Universität von Rom, der „La Sapienza“, mit summa cum laude ab – ein wunderbarer Abschluss. Doch fiel er schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. Der frisch gekürte Philosoph fand keinen Job. Seine Eltern sollten also zunächst recht behalten haben. „Damals hieß es tatsächlich: Die Philosophie ist tot“, bekennt er heute.

Globale akademische Ausbildung

Doch auch der drohende Karriereknick konnte ihn nicht erschüttern. Baccaro beschloss, sich den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zuzuwenden. „Im Grunde war mir schon damals klar, dass man Gesellschaften nicht begreifen kann, ohne ihre Wirtschaft zu verstehen.“ Es begann für ihn nun die Zeit einer äußerst abwechslungsreichen und exzellenten Ausbildung als Politökonom mit unterschiedlichen Stationen: Er machte seinen Master of Business Administration in Ercolano bei Neapel, wurde unter anderem Forschungsassistent bei Professor Tiziano Treu – einem angesehenen italienischen Politiker und ehemaligen Minister –, studierte Politikwissenschaft und Politische Ökonomie am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA, forschte zum Thema industrielle Beziehungen an der ehrwürdigen Universität Pavia im Norden Italiens, wurde für ein Jahr Visiting Scholar am Istituto di Ricerche Economiche e Sociali (IRES) in Rom und machte 1999 am MIT schließlich seinen PhD in Industrial Relations und Political Science. „Ich hatte danach sehr attraktive Angebote aus der Industrie“, meint Baccaro. Doch die Aussicht auf ein Leben mit vielen materiellen Verlockungen stand nicht in seinem Fokus. „Ich wollte akademisch arbeiten. Geld interessierte mich einfach nicht so.“

»Gesellschaften kann man nicht begreifen, ohne ihre Wirtschaft zu verstehen.« 

Nach weiteren Forschungsjahren am MIT und an der International Labour Organization (ILO) ist er seit 2009 Professor für Soziologie an der Université de Genève in der Schweiz. Dort lebt er heute mit seiner Familie. Neben Stipendien und Förderungen erhielt er zahlreiche Preise, darunter 2011 den International Geneva Award. Regelmäßig veröffentlicht er in renommierten Zeitschriften wie dem British Journal of Political Science, International Organization oder dem British Journal of Industrial Relations. Wissenschaftler zählen Baccaro heute zu den „relevanten Experten“ im Bereich Vergleichende Politische Ökonomie. Er gilt als einer der Kenner von Arbeitsmarktbeziehungen, Wirtschaftswachstum und Sozialpolitik.

Deutsche Exportorientierung im Fokus

In der Vergleichenden Politikwissenschaft waren in den vergangenen zehn Jahren Forschungen speziell zu den verschiedenen „Spielarten des Kapitalismus“ – auch Varieties of Capitalism (VoC) genannt – sehr populär. Sie basierten auf der Annahme, dass es mehr als eine „Variation“ des Kapitalismus gibt und dass jede von ihnen durch die unterschiedlichen Institutionen in den jeweiligen Ländern beeinflusst wird. Die unter dem Begriff Korporatismus festgehaltenen verschiedenen Formen der Beteiligung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen an politischen Entscheidungsprozessen und ihr Zusammenspiel sind für die jeweilige wirtschaftliche Orientierung der Länder entscheidend. Baccaro greift nun diesen Faden auf und versucht, die VoC-Perspektive zu erweitern. So stellt er beispielsweise neue Querverbindungen zwischen den Kapitalismustypen einerseits und Wohlfahrtsstaaten oder Regierungssystemen andererseits her. Seine aktuellen Forschungen betreffen vor allem Deutschland, Großbritannien, Schweden und Italien.

So sieht Baccaro den deutschen Exportdrang auf Dauer als problematisch an – nicht nur für die europäischen Nachbarn, sondern auch für die Bundesrepublik selbst. Die jetzige Lohn- und Wirtschaftspolitik begünstige mit ihrer geringen Lohnsteigerung und ihrem äußerst zurückhaltenden staatlichen Investitionsengagement die seit einigen Jahren übermäßigen Exportüberschüsse. Die Folge sei zwar ein Anstieg der preislichen internationalen Wettbewerbsfähigkeit, gleichzeitig bewirke dies aber eine Schwächung der Dynamik im Binnenmarkt und des gesamtwirtschaftlichen Wachstums. „Es scheint in Deutschland eine Beziehung zwischen dem Wachstum des Nettoexports und dem Wachstum des Privatverbrauchs zu geben“, sagt Baccaro.

»Der deutsche Exportdrang ist auf Dauer problematisch – nicht nur für die europäischen Nachbarn, sondern auch für die Bundesrepublik.« 

Vor allem im Euroraum geht die hohe Exportquote des einen zulasten des anderen – so stehen den Exportüberschüssen Deutschlands notwendigerweise die Defizite der Handelspartner gegenüber. Ihre Außenhandelsdefizite müssen von den Ländern durch Kreditaufnahme im Ausland finanziert werden. Auch deswegen betonen Kritiker der deutschen Exportpolitik: Nicht nur die Schuldenkrise, sondern auch die Lohnkostenunterschiede und Wettbewerbsvorteile haben zur Eurokrise geführt.

Deutsche institutionelle DNA

Die geringen Lohnsteigerungen in Deutschland seien freilich auch das Ergebnis von Lohnverhandlungen mit den Arbeitnehmerverbänden. „Die Exportorientierung in Deutschland ist ein politisches Phänomen“, meint Baccaro. In Deutschland gebe es einen hegemonialen Block, der aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern bestehe und der die Interessen der Exportwirtschaft vorantreibe. Die Anzahl der Akteure, die ihren Fokus auf den Binnenmarkt legten, sei in Deutschland verschwindend gering. Das Hauptziel der exportorientierten Union und der Arbeitgeberverbände sei natürlich auch immer die Jobsicherung, sagt Baccaro. Und genau dieses Ziel bringe beide Seiten dazu, Kompromisse und Zugeständnisse zu machen. Dass die Gewerkschaften einen solchen wirtschaftspolitischen Kurs mehr oder weniger mittrügen, sei für Europa zwar sehr eigentümlich, aber nicht wirklich verwunderlich: „Ein Facharbeiter verdient in Deutschland heute sehr gut. Warum sollten die Gewerkschaften aktuell einen anderen politischen Weg einschlagen?“, fragt Baccaro.

Die große Neigung zum Export war immer schon Teil der institutionellen DNA in der Bundesrepublik. „Es ist allerdings schon bemerkenswert, inwieweit sich das deutsche Modell in den vergangenen Jahren radikalisiert hat“, erklärt Baccaro. Tatsächlich stieg der Anteil der Exporte von Waren und Dienstleistungen am Bruttoinlandsprodukt in der Bundesrepublik seit Mitte der 1990er-Jahre extrem: Die Exportquote war 1994 kleiner als 20 Prozent und stieg auf 40 Prozent in 2007. Die bedenkliche Konsequenz für das Land: Deutschlands Abhängigkeit von der Entwicklung der Weltwirtschaft wird immer größer. Auch deswegen fragt Baccaro stets kritisch in seinen Vorlesungen: Ist die Radikalisierung der deutschen Exportorientierung vielleicht nur ein Scheinerfolg? Wie nachhaltig ist sie? Was wäre, wenn Deutschland in den vergangenen Jahren mehr auf seine binnenwirtschaftliche Ausrichtung gesetzt hätte? Hat das Land möglicherweise leichtfertig Wachstumschancen vergeben?

Der Traum einer ausgewogenen Weltwirtschaft

Eindeutige Antworten sind schwierig. Baccaro meint: Wenn die Euro-Währungsunion weiter fortbestehen soll, dann werden die absolut notwendigen strukturellen Reformen in Italien, Frankreich oder den anderen mediterranen Ländern nicht ausreichen. Auch die Deutschen werden Zugeständnisse machen müssen, um die Divergenzen zwischen den Euroländern zu verringern. Deutschland müsste sich bemühen, sich an „unten anzupassen“, indem es mehr in die eigene Infrastruktur und Bildung investiert und bewusst auf die aktuelle Wettbewerbsfähigkeit verzichtet.

»Deutschland muss sich an unten anpassen.« 

Allerdings weiß auch Baccaro: Eine solche Forderung an die Bundesrepublik wäre wohl nicht sehr fair. Denn würde Frankreich sich von seiner Kernenergie trennen? Würde Großbritannien sich von seiner Finanzwirtschaft verabschieden? „Warum sollte Deutschland die wichtigste Quelle seines ökonomischen Erfolgs aufgeben?“, fragt Baccaro. Für ihn wäre deswegen ein gut „verhandelter Abbau“ des Euro in Europa die beste Lösung.

Baccaro plädiert für eine „globale Ökonomie in Balance“. Als Vorbild sieht er Schweden – in der Zeit vor der Finanzkrise –, das sowohl im Export stark war als auch einen dynamischen Binnenmarkt vorweisen konnte. Nichts von beidem habe hingegen Italien. Sein Heimatland sieht Baccaro als den aktuellen Verlierer Europas. „Wenn es nach mir ginge, würde ich Italien temporär aus dem Euro herausnehmen“, erklärt Baccaro. Seitdem sein Land der Eurozone beigetreten ist, konnte es kaum Wachstum generieren. Die wirtschaftliche Leistung Italiens über diesen Zeitraum ist damit sogar noch schlechter als die Griechenlands.

Als Politiker nicht geschmeidig genug

Dass Italien aber tatsächlich für eine bestimmte Zeit aus der Eurozone austritt, sei für italienische Politiker unvorstellbar. „Das grenzt für sie an Blasphemie“, meint Baccaro. Zu gerne würde er sie wohl aber einmal persönlich überzeugen. Überhaupt kann er sich vorstellen, in Zukunft Politiker zu beraten – sei es in Italien, seinem Geburtsland, oder auch der Schweiz, wo er seinen Wohnsitz hat. Doch in dem von vielen Abhängigkeiten bestimmten politischen Spiel selbst einmal Verantwortung zu übernehmen, kommt für ihn nicht infrage: „In der Politik muss man viele Kompromisse machen – ich wäre als Politiker sicher vollkommen ungeeignet.“

Kampfgeist genug hätte er – ja schon von Geburt an – sicher, um auch eine solche Position erfolgreich zu meistern. Doch noch besser ist es, er bleibt bei der Wissenschaft: Sie braucht Leute wie Lucio Baccaro, die immer wieder kritisch und akribisch darüber nachdenken, wie der Übergang zu einem neuen sozialen und ökonomischen System in einer dynamischen und modernen Gesellschaft aussehen könnte.

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