Bernhard Ebbinghaus

15. März 2017

Professor of Social Policy im Department of Social Policy and Intervention und Fellow am Green Templeton College der University of Oxford | Wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPIfG von 1997 bis 2004

Das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung war nach Berufung des neuen Direktors Wolfgang Streeck gerade im Umbruch, als ich 1997 von einer Assistentenstelle am Lehrstuhl von Peter Flora von Mannheim nach Köln wechselte. Gegenüber der Universität bot das MPIfG die Möglichkeit der Forschung ohne Lehrverpflichtung – ein attraktiver Rahmen und eine ideale Forschungsumgebung für den Abschluss meines Habilitationsprojekts zu den Wechselwirkungen zwischen Wohlfahrtsstaat und Arbeitsbeziehungen.

Das MPIfG stellt günstige Bedingungen für Forschung und viele Chancen für Nachwuchswissenschaftler bereit: Aus einer internationalen Tagung am MPIfG, die ich gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Philip Manow organisierte, ging der Band Comparing Welfare Capitalism hervor, den wir bei Routledge 2001 herausgaben. Der Band schlug eine Brücke zwischen vergleichender Wohlfahrtsregimeforschung und dem damals neuen Varieties-of-Capitalism-Ansatz. Ein Jahr als Kennedy Fellow am Center for European Studies der Harvard University zum Jahrtausendwechsel ermöglichte es mir, die langjährige Arbeit am Handbuch- und Datenprojekt zu Trade Unions in Western Europe since 1945 (Macmillan 2000) mit dem niederländischen Soziologen Jelle Visser abzuschließen. Wir konnten im historischen Vergleich zeigen, dass Gewerkschaften als „Dinosaurier des Industriezeitalters“ ihren Zenit überschritten hatten.

Am MPIfG bietet sich stets die Gelegenheit zu vielfältigem Austausch mit Gästen aus dem In- und Ausland. Hieraus ergaben sich für mich neue Forschungsperspektiven und Anschlussmöglichkeiten. Jonathan Zeitlin, damals Politikwissenschaftler an der University of Wisconsin–Madison, lud mich zu einer Gastprofessur für das Herbstsemester 2001 ein. Einen meiner ersten Vorlesungstermine in Madison werde ich nicht vergessen – am Tag der 9/11-Attentate musste ich den amerikanischen Masterstudierenden die schrecklichen Nachrichten mitteilen. Erstaunlich war, wie verzögert deren globalen Implikationen den „Midwesterners“ bewusst wurden. Mir dagegen bestätigte es, wie wichtig eine Vorlesung zu internationalen Arbeitsbeziehungen für die US-Studierenden war, um damit einer ethnozentrischen Perspektive entgegenzuwirken.

»Die Eigenheiten des dezentralen Collegesystems verhindern unüberlegten radikalen Wandel.«

Einen unmittelbaren Einfluss auf meine eigenen Arbeiten hatten auch die akademischen (und politischen) Tätigkeiten der MPIfG-Direktoren. Eine Autorenkonferenz im verschneiten MPG-Tagungsschloss Ringberg zum Sammelbandprojekt Welfare and Work in the Open Economy (Oxford 2000) über globale und endogene Herausforderungen von Wohlfahrtsstaaten unter der Leitung von Fritz W. Scharpf und Vivien Schmidt schuf Stoff für viele Jahre der Forschung. Wolfgang Streecks Beratung der Bundesregierung zur Zeit des Bündnisses für Arbeit regte zu fruchtbaren Debatten über die Chancen und Hürden einer neokorporatistischen Renaissance in Europa an und führte unter anderem zur Zusammenarbeit mit Anke Hassel, heute wissenschaftliche Direktorin am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI), zum Thema sozialer Pakte.

Der vertiefte interdisziplinäre Austausch zwischen Soziologie, Politikwissenschaft und politischer Ökonomie am MPIfG war eine intellektuelle Bereicherung, die so nur an wenigen Instituten möglich ist. Der Dialog über Fächer hinaus lohnt sich der innovativen Forschungsideen wegen, auch wenn er auf dem akademischen Arbeitsmarkt nicht immer honoriert wird. Grenzüberschreitender Pionier zu sein motivierte mich, war aber nicht immer leicht. Meine Habilitation im Jahr 2003 war die erste, die Wolfgang Streeck als neuer Honorarprofessor an der Universität zu Köln betreute: Meine Habilitationsschrift zur Frühverrentung, die 2006 bei Oxford University Press erschien, wurde zum Streitthema, weil sie in englischer Sprache verfasst war, und mein Habilitationsvortrag zur Pfadabhängigkeit wurde wohl als Kritik der Ökonomie in der Kölner WiSo-Fakultät missverstanden.

Der Einstieg in die universitäre Lehre ist für Max-Planck-Wissenschaftler nicht im­mer einfach – aber eben auch besonders wichtig für eine Berufung auf eine Pro­fessur. Nach mehr als fünf Jahren der For­schungsarbeit in Köln und zwei längeren Auslandsaufenthalten trat ich mit einer Vertretungsprofessur in Soziologie an der Universität Jena in den deutschen Lehrbetrieb ein. An dieser ostdeutschen Universität konnte ich eindrucksvoll miterleben, wie sehr das westdeutsche Universitätssystem – aus legitimatorischen Gründen – auf den Osten übertragen wurde, ohne die Chance der Erneuerung von Forschung und Lehre wahrzunehmen.

Erste eigene Gestaltungsmöglichkeiten brachte im Herbst 2004 der Ruf auf den Lehrstuhl für Makrosoziologie an der Universität Mannheim mit sich. Der Bologna-Prozess zwang uns dazu, neuartige Bachelor- und Master-Studiengänge für das Fach Soziologie zu entwerfen. Dank der Exzellenzinitiative konnte ich als Academic Director der Graduate School of Economic and Social Sciences ein englischsprachiges Ph.D.-Programm in den Sozialwissenschaften mitgestalten. Die Erfahrungen, die ich als DAAD-Stipendiat am European University Institute in Florenz gesammelt hatte, flossen dort maßgeblich ein. Die Soziologie an der Universität Mannheim zeichnet sich durch eine enge Verbindung von methodisch fundierter Lehre und empirischer Sozialforschung aus, die ihr eine herausragende Stellung in der deutschen Soziologie verleiht. Das zeigte sich auch im Forschungsrating des Wissenschaftsrats von 2008, das Mannheim mit dem MPIfG in der Spitzenposition bestätigte.

Auf meine internationalen Erfahrungen und Kontakte am MPIfG konnte ich ab 2005 auch als Leiter der Forschungsabteilung und danach Direktor des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung (MZES) zurückgreifen. Das MZES ist das größte sozialwissenschaftliche Institut einer deutschen Universität mit umfangreicher Drittmittelforschung. Am MZES baute ich mit Mitteln der DFG und der Hans-Böckler-Stiftung eine Forschergruppe zur vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung auf. Diese interdisziplinäre Forschung zwischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften war ein anregender Rahmen für ein langfristig gefördertes Projekt zu Organisierten Interessen sowie Einstellungen zu Sozialpolitikreformen am Sonderforschungsbereich Political Economy of Reform. Der hieraus hervorgegangene Sammelband Welfare States Reforms Seen from Below (Hg. mit Elias Naumann) wird 2017 bei Palgrave erscheinen.

Das Brexit-Referendum beherrschte die öffentliche Diskussion, als ich 2016 nach zwölf Jahren Mannheim einen Ruf nach Oxford annahm. Der Empfang für ­MPIfG-Alumni auf der SASE-Konferenz in Berkeley im Juni 2016 bleibt mir in Erinnerung, da das Brexit-Referendum unter den teilnehmenden britischen und EU-Kollegen einen Schock auslöste. Trotz Brexit nehme ich die Herausforderung an und bin nun seit Anfang 2017 Professor of Social Policy am Department of Social Policy and Intervention an der University of Oxford. Das Department bietet Graduiertenprogramme in Comparative Social Policy und Evidence-based Social Intervention an. Mentoring der Studierenden, Qualitätssicherung durch Peer-Review-Verfahren und der interdisziplinäre Austausch stehen für Oxford im Vordergrund. Die achtunddreißig Colleges sowie zahlreiche Departments ergeben erst die University of Oxford, die Jahrhunderte institutionellen Wandels erfolgreich durchlebt hat und dies auch für das Global Britain nach dem Brexit anstrebt.

Nicht nur in der Architektur und im Traditionenkult mutet Oxford mittelalterlich an. Die Eigenheiten eines dezentralen Collegesystems und des Universitätsparlaments Congregation, in dem noch Talar getragen wird, verhindert unüberlegten radikalen Wandel. An meinem Forschungsthema „Verrentung“ lässt sich das gut ablesen. Gegenwärtig wird kontrovers über die Erhöhung oder gar Abschaffung des Ruhestandsalters von Professoren diskutiert. Dabei stehen ältere Kolleginnen und Kollegen wie auch Naturwissenschaftler als Befürworter den jüngeren und Geisteswissenschaftlern gegenüber.

Neben der Professur am Department of Social Policy and Intervention habe ich als Senior Research Fellow am Green Templeton College Einblicke in die Humanwissenschaften und Betriebswirtschaft und als Associate Member des Nuffield College anregenden Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen der Soziologie und Politikwissenschaft am „High Table“, dem Abendessen für Fellows. Das OxPo-Austauschprogramm der University of Oxford mit der Pariser Sciences Po ergibt wiederum Kontakte mit Forschern der mit MaxPo geschaffenen Köln-Paris-Achse. Im Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies (MaxPo) arbeiten Wissenschaftler des MPIfG und der Sciences Po zusammen.

Die Folgen des Brexit sind zurzeit unwägbar. Eine Veranstaltung zu 10 Jahren Förderung durch den Europäischen Forschungsrat in den Sozialwissenschaften in Oxford zeigte, dass nicht nur ein beachtlicher Anteil der Forschungsmittel von der EU stammt, sondern auch, dass diese Art der Grundlagenforschung bisher zahlreiche europäische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einbezieht. Es wird eine Herausforderung sein, diese internationale Spitzenforschung aufrechtzuerhalten und für europäische Studierende und Forscher ein attraktiver akademischer Standort zu bleiben.

Es wäre paradoxal, wenn Oxford durch den Brexit wieder zur britischen Kaderschmiede einer Gentlemen-Elite verkümmern würde, nachdem die Traditionsuniversität sich in den letzten Jahrzehnten zu einer führenden globalen Forschungsuniversität entwickelt hat. Ich hoffe, dass ich als Head of Department in den kommenden Jahren zumindest die international vergleichende Sozialpolitikforschung in einem schwierigen Umfeld weiterentwickeln kann. Die Erfahrungen und Kontakte, die ich am MPIfG gewinnen konnte, helfen dabei, interdisziplinäre Forschung und internationale Nachwuchsförderung voranzutreiben.

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht