Das Forschungsprogramm des MPIfG

Das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung befindet sich zurzeit in der vierten Programmperiode seit seiner Gründung im Jahr 1985. Im Mittelpunkt der Forschungsprogramme stand und steht – aus jeweils unterschiedlicher Perspektive betrachtet – die Steuerung und Koordination moderner Gesellschaften. Reale Veränderungen in der Organisation von Wirtschaft und Politik führten zur Formulierung neuer forschungsleitender Fragen und spiegeln sich in den Änderungen des Programms ebenso wider wie die Berufung neuer Direktoren, die neue Forschungsakzente setzten.

Schwerpunkt der ersten Programmperiode von 1986 bis 1995 waren historisch und international vergleichende Untersuchungen zur Interaktion zwischen staatlicher Steuerung und gesellschaftlicher Selbstorganisation in ausgewählten staatsnahen Sektoren. Besonderes Forschungsinteresse richtete sich dabei auf Gesundheitssysteme, Wissenschafts- und Forschungssysteme sowie technische Infrastrukturen, vor allem die Telekommunikation. Ziel war eine realistische, praktisch anwendbare sozialwissenschaftlich fundierte Theorie der Steuerung und Koordination moderner Gesellschaften durch das Zusammenwirken eines interventionistischen Staates und einer sich selbst organisierenden Gesellschaft.

Die zweite Programmperiode von 1996 bis 2005 war eine Antwort auf die wachsende Bedeutung von Märkten und Wettbewerb selbst in jenen Sektoren, die früher staatlich geschützt und kontrolliert waren. So wurde beispielsweise der Telekommunikationssektor, der bis in die Mitte der 1990er-Jahre als Staatsmonopol organisiert war, privatisiert und dereguliert. Ideologischer Wandel und eine veränderte öffentliche Wahrnehmung der Wirklichkeit mögen dazu beigetragen haben, dass in den 1990er-Jahren Märkte zunehmend an Bedeutung gewannen. Ein weiterer Grund war aber ein langfristiger Rückgang nationalstaatlicher Regulierungskapazitäten als Folge der Internationalisierung – einschließlich der europäischen Integration – und des internationalen Regimewettbewerbs. Daraufhin wurden die neu entstehenden Formen der Mehrebenenpolitik sowie die Folgen wirtschaftlicher Liberalisierung für Staaten und Regierungen zu Forschungsschwerpunkten am MPIfG.

Schwerpunkt der dritten Programmperiode von 2006 bis 2016 war die Untersuchung des Übergangs von staatlicher Regulierung zu marktorientierten Formen sozialer Ordnung, wobei den sozialen, kulturellen und politischen Voraussetzungen des Funktionierens von Märkten besondere Aufmerksamkeit zukam. Die Projekte erforschten zum einen, wie Märkte und Unternehmen in historische, institutionelle, politische und kulturelle Zusammenhänge eingebettet sind. Zum anderen untersuchten sie die sozialen und politischen Prozesse, die wirtschaftliche Beziehungen im Zeitablauf gestalten. Ziel war die Entwicklung eines empirisch fundierten Verständnisses der sozialen und politischen Grundlagen – oder auch der „Verfassung“ – moderner Wirtschaftsordnungen sowie der Zusammenhänge zwischen sozialem, politischem und wirtschaftlichem Handeln. Ein spezielles Augenmerk lag auf der Untersuchung des Liberalisierungsprozesses, den die verschiedenen Sphären entwickelter Gesellschaften durchliefen, sowie der daraus folgenden „Entbettung“ der kapitalistischen Wirtschaft aus der Obhut von Politik und Staat.

Auch in der aktuellen Programmperiode steht die Wirtschaft im Mittelpunkt der Forschungsagenda. Das Durchdringen der Funktionsweise der Wirtschaft ist eine Voraussetzung für das Verstehen weiterer sozialer Lebensbereiche, einschließlich der politischen Prozesse. Der Ansatz des Instituts besteht aber nicht darin, das Instrumentarium der Wirtschaftswissenschaften auf die Untersuchung gesellschaftlicher und politischer Phänomene anzuwenden. Vielmehr geht es darum, soziologische und politikwissenschaftliche Theorien und Methoden für ein Verständnis wirtschaftlicher Phänomene und ihres Verhältnisses zu gesellschaftlichen und politischen Prozessen fruchtbar zu machen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Kapitalismus als historisch bedingter soziopolitischer Ordnung. Besonderes Interesse gilt zum einen seiner Instabilität, die sich in der zunehmenden Schwierigkeit zeigt, die materiellen und ideellen Ressourcen zu erzeugen, die für seine Reproduktion erforderlich sind. Zum anderen richtet es sich auf die vielfältigen Herausforderungen für die Gesellschaft und die Prozesse der demokratischen Politik, die durch diese Instabilität entstehen. Erst durch die Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft werden wirtschaftliche Dynamiken und gesellschaftliche Entwicklungen im Ganzen erkennbar.

In dieser breit gefächerten Ausrichtung setzt das Institut weiterhin auf eine enge Verzahnung von Wirtschaftssoziologie und Politischer Ökonomie. Während die Politische Ökonomie vorrangig Phänomene auf der Makroebene zu erklären sucht, liegt die spezielle Stärke der Wirtschaftssoziologie in ihrer Ausrichtung auf die Mikroebene gesellschaftlicher Interaktionen in der Wirtschaft. Diese beiden Traditionen in einen engen Dialog miteinander zu bringen und in einer für beide Seiten fruchtbaren Weise anzuwenden, betrachten wir als ein wichtiges Ziel der Forschung am MPIfG. Dies bedeutet, auch der Frage der Bildung von Präferenzen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, da sie von kognitiven Rahmenbedingungen, sozialen Beziehungen und Institutionen beeinflusst werden. Dazu gehört auch, die Rolle von Erwartungen ernst zu nehmen und diese in ihren sozialen Kontexten zu untersuchen. Erforscht werden die konkreten historischen Prozesse der Entstehung und Verbreitung von Erwartungen. Ebenso muss die Rolle kollektiver Akteure, neuer digitaler Technologien sowie der Medien, die alle an der Ausgestaltung von Präferenzen beteiligt sind, berücksichtigt werden. Und schließlich erfordert die Verzahnung von Wirtschaftssoziologie und Politischer Ökonomie, die Interaktionen von Akteuren als eingebettet in soziale und politische Kräftefelder zu verstehen, in denen einige Akteure nicht nur die Fähigkeit haben, Tauschergebnisse zum Vorteil beider Seiten herbeizuführen, sondern auch – direkt oder indirekt – anderen ihre Präferenzen aufzuzwingen. 

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Ausgangspunkt für die Analyse des Kapitalismus, der als ein per se dynamisches System verstanden wird, ist ein Ungleichgewichtsansatz: Zwar können kapitalistische Ökonomien bisweilen ausgedehnte Stabilitätsphasen durchlaufen, doch selbst dann bleiben sie anfällig für interne Konflikte, da Akteure danach streben, die Konditionen des Status quo zum eigenen Vorteil zu verändern. Letztlich wird jede Stabilitätsphase aufgehoben – durch endogene Kräfte sowie exogen bewirkte Wandlungsprozesse, die eine neue Phase scheinbarer Stabilität einläuten können.

Für das MPIfG, das zur Etablierung der vergleichenden Kapitalismusforschung als Forschungsfeld erheblich beigetragen hat, gehört es zum Grundverständnis, dass es unterschiedliche Formen des Kapitalismus gibt, die weder nach Effizienzkriterien noch nach Reifegrad entlang eines evolutionären Entwicklungspfades angeordnet werden können. Frühere Forschungsergebnisse am MPIfG haben jedoch auch gezeigt, dass die verschiedenen „Spielarten des Kapitalismus“ nicht als institutionelle Gleichgewichte verstanden werden dürfen und allgemeinen Trends wie der Liberalisierung, der Finanzialisierung und zunehmender sozialer Ungleichheit unterliegen.

Die vergangenen zwei Jahrzehnte haben diesen Ungleichgewichtsansatz zur Erforschung der Wirtschaft in ihren Beziehungen zur Gesellschaft bestätigt. Die globale Finanzkrise von 2007 hat gezeigt, dass die Vorstellung einer „Great Moderation“, in der Konjunkturschwankungen gesteuert werden können, indem man Zentralbanken ihre Inflationsziele unabhängig von politischen Interventionen erreichen lässt, Märkte bei minimaler Regulierung effizient funktionieren und Arbeitslosigkeit dauerhaft durch eine Flexibilisierung der Institutionen des Arbeitsmarkts gesenkt werden kann, eine fromme Illusion gewesen war – und vielleicht auch ideologisch verbrämt. Es stellte sich heraus, dass Wachstum hochgradig abhängig von einem überdimensionierten Finanzsektor und darüber hinaus höchst ungleich verteilt war: Die meisten Erträge flossen dem inzwischen berüchtigten „Top-1-Prozent“ zu. Im Nachhinein betrachtet, war der durch die Finanzkrise verursachte Schock jedoch partiell und vorübergehend. Die massiven Interventionen der Zentralbanken – auch durch unorthodoxe Maßnahmen – trugen zu einer erneuten Stabilisierung der Wirtschaft bei und erzeugten den Eindruck, eine Rückkehr zur Normalität sei möglich. Doch gleichzeitig riefen sie neue Risiken, Ungleichheiten und Instabilitäten hervor.

Der Ausbruch der Corona-Pandemie im Jahr 2020 – ein weiterer „Schwarzer Schwan“, der zwar von einigen antizipiert, jedoch von politischen Entscheidungsträgern nicht ernsthaft für möglich erachtet worden war – hat einmal mehr die Rolle ungewisser Zukünfte und die Anfälligkeit des liberalisierten Kapitalismus vor Augen geführt. Er hat die Defizite eines Regulierungssystems enthüllt, das private Märkte mit der Lösung sozialer Probleme betraut. Die Abhängigkeit von privaten Anbietern für Dienstleistungen der Grundversorgung, die globale Organisation von Lieferketten sowie der Ruf nach Kürzungen von Gesundheits- und Sozialausgaben dürften künftig auf größere Widerstände stoßen. Die Globalisierung, die sich bereits vor der Corona-Krise in der Defensive befand, könnte abermals an einem historischen Wendepunkt stehen. Auch dies unterstreicht den Hauptansatzpunkt der Forschung am MPIfG, der besagt, dass wirtschaftliche Phänomene ausschließlich in ihrer Interaktion mit Politik und Gesellschaft verstanden werden können. Die Untersuchung der gesellschaftlichen Folgen dieser Krise sowie der politischen Antworten hierauf wird eine neue Aufgabe der Forschung im Bereich der Wirtschaftssoziologie und der Politischen Ökonomie sein.

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Wie werden sich diese Trends auf die Steuerung und Koordination entwickelter Gesellschaften auswirken? Demokratischer Kapitalismus braucht Wachstum. Zugleich unterliegt das System dem demokratischen Erfordernis, in regelmäßigen Zeitabständen eine tragfähige Wahlmehrheit sicherzustellen. In den vergangenen einhundert Jahren basierte die gesellschaftliche und politische Integration darauf, Verteilungskonflikte mithilfe wirtschaftlichen Wachstums zu befrieden und staatsbürgerlichen Erwartungen hinsichtlich materieller Verbesserungen nachzukommen. Doch schon lange vor der Großen Rezession schrumpften in allen entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften die Wachstumsraten und der Lebensstandard der Mehrheit der Bevölkerung stagnierte. Wie die Literatur zur „säkularen Stagnation“ zeigt, konnte Wachstum – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in der Nachkriegszeit – nur beibehalten werden, indem wiederholt auf außergewöhnliche Maßnahmen zur Stimulierung der Wirtschaft zurückgegriffen wurde, etwa die Nutzung regelmäßig auftretender Spekulationsblasen, eine immer lockerere Geldpolitik oder ein leichterer Zugang zu privater Verschuldung.

Ausgangspunkt der Forschung am MPIfG zur Politischen Ökonomie von Wachstumsmodellen ist die Annahme säkularer Stagnation. In den Nachkriegsjahren basierte wirtschaftliches Wachstum auf einem Modell, in dem die gesamtwirtschaftliche Nachfrage im Gleichschritt mit dem gesamtwirtschaftlichen Angebot wuchs – dank Institutionen, die sicherstellten, dass sich Produktivitätssteigerungen in Realeinkommen niederschlugen. Dieses „fordistische“ oder „lohnorientierte“ Wachstumsmodell wurde jedoch durch interne und externe Veränderungen untergraben. Aufgrund einer in den 1970er-Jahren einsetzenden Verschiebung der Einkommensverteilung weg vom Arbeits- und hin zum Kapitaleinkommen sahen sich entwickelte Länder einem Problem gegenüber, das durch exzessives Sparen sowie Nachfrageausfall gekennzeichnet war und dem sie mit der Aktivierung einer Reihe von alternativen Nachfragetreibern begegneten. In einigen Fällen wurde das Wachstum überwiegend durch den kreditfinanzierten Konsum der inländischen Haushalte aufrechterhalten, der durch den leichteren Zugang der Haushalte zur Verschuldung oder durch Wohlstandseffekte aus Vermögenswertsteigerungen (einschließlich Wohneigentum) möglich wurde. In anderen Fällen beruhte das Wachstum stark auf externer Nachfrage, was zu exportorientierten Wachstumsmodellen führte. Weitere Länder konnten mehrere Wachstumstreiber kombinieren, während wiederum andere keine Alternativen zum lohnorientierten Wachstumsmodell fanden. Die verschiedenen Wachstumsmodelle beruhen auf spezifischen Schlüsselsektoren und den damit verbundenen Koalitionen von zentralen Produzentengruppen.

Die Forschung im Projektbereich Politische Ökonomie wird den Ansatz der Wachstumsmodelle weiterentwickeln und dabei untersuchen, wie sich Krisen auf nationale Entwicklungspfade auswirken, vor allem im Hinblick auf eine künftig spürbar stärkere Rolle des Staates bei der Steuerung der Wirtschaft. Ein besonderes Augenmerk wird auf der politischen Dimension von Wachstumsmodellen liegen. Wir streben einen Mittelweg zwischen den politökonomischen Ansätzen der „Koalition der Produzentengruppen“ und der Erklärung durch Wahlverhalten an. Ersterer betont den Einfluss wirtschaftlicher Akteure und Interessengruppen auf politische Grundsatzentscheidungen. Letzterer hebt die Präferenzen der Wählerschaft als die wesentlichen Determinanten politischer Richtungsentscheidungen hervor. Beide Ansätze haben ihre Stärken und Schwächen. Der Ansatz der Koalition der Produzentengruppen kann oft überzeugend erklären, warum bestimmte politische Grundsatzentscheidungen getroffen werden, doch erachtet er es als nahezu selbstverständlich, dass demokratische Mehrheiten auch gebildet werden können. Der Ansatz, der das Wahlverhalten in den Mittelpunkt stellt, sieht sich dem entgegengesetzten Problem gegenüber: Er vernachlässigt, dass manche Interessen stärker wiegen als andere.

Unser Ansatz unterscheidet zwischen Politikgestaltung und Konsensmobilisierung. In Einklang mit dem Ansatz der Koalition der Produzentengruppen werden politische Grundsatzentscheidungen als von „dominanten wachstumsorientierten Koalitionen“ gestaltet aufgefasst, die durch gemeinsame – Klassengrenzen womöglich überschreitende – Interessen zusammengehalten werden. Jedoch kann in Anlehnung an den Ansatz der Wählerpräferenzen im demokratischen Kapitalismus eine Konsensmobilisierung weder als selbstverständlich gelten noch ignoriert werden. Die dominante wachstumsorientierte Koalition muss eine Wahlmehrheit aufbauen, die bereit ist, ihre zentralen politischen Maßnahmen mitzutragen. Dies wird leichter gelingen, wenn das Wachstumsmodell eine angemessene Wachstumsrate generiert, die zum Teil eingesetzt werden kann, um jenen einen Ausgleich anzubieten, die durch das Modell Nachteile erleiden. Dies ist allerdings nur möglich, wenn diese Gegenleistung den strukturellen Grundlagen des Wachstumsmodells nicht widerspricht. Wir stellen zudem die Hypothese auf – und beabsichtigen, diese zu testen –, dass eine dominante wachstumsorientierte Koalition Vorherrschaft ausübt in dem Sinn, dass sie die Ansichten einer breiteren, über den Kern des Wachstumsmodells hinausgehenden Koalition prägen kann. Zur Darstellung der Größe und Zusammensetzung von unterstützenden Koalitionen in verschiedenen Ländern wird eine Vielzahl von Methoden eingesetzt werden, unter anderem große Umfrageprojekte.

Die künftige Forschung wird Wachstumsmodelle nicht nur aus dem Blickwinkel der Vergleichenden Politischen Ökonomie untersuchen, sondern auch aus dem der Internationalen Politischen Ökonomie. Wachstumsmodelle sind aufeinander angewiesen und in eine stark strukturierte internationale Finanzhierarchie eingebettet. Außerdem wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Produktion in globale Wertschöpfungsketten umorganisiert. Exportorientierte und konsumorientierte Wachstumsmodelle benötigen einander, da die Exportüberschüsse des einen Landes den kreditgestützten Konsum in dem anderen Land mitfinanzieren. Exportorientierte Volkswirtschaften stützen die Rolle des US-Dollars als internationale Währung, indem sie ihre Exportüberschüsse in Dollar umwandeln. Mittels einer Perspektive der Internationalen Politischen Ökonomie lässt sich zwischen zentralen und peripheren Wachstumsmodellen unterscheiden. Zentrale konsumorientierte Wachstumsmodelle können Auslandsschulden nahezu ohne Korrekturbedarf anhäufen, da der Rest der Welt ihnen bereitwillig Geld leiht. Anders ausgedrückt: Die Leistungsbilanz stellt für diese Länder keine Einschränkung dar. Demgegenüber sind periphere konsumorientierte Wachstumsmodelle den Fährnissen grenzüberschreitender Finanzströme völlig ausgeliefert. In einem zentralen exportorientierten Wachstumsmodell stehen nationale Unternehmen an der Spitze globaler Wertschöpfungsketten. Demgegenüber liegt in einem peripheren exportorientierten Wachstumsmodell das Eigentum an Exportunternehmen in ausländischen Händen. Alternativ versorgen inländische Unternehmen Lieferketten, an deren Spitze ausländische Unternehmen stehen. Dies beschränkt die Möglichkeiten der inländischen Unternehmen, Gewinne zu erzielen und eine bessere Position in der Wertschöpfungskette zu erlangen, wodurch ihr Land in Abhängigkeit von ausländischem Kapital geraten kann.

Wachstumsmodelle als eingebettet in eine hierarchisch strukturierte internationale politische Ökonomie zu verstehen, erfordert es ebenfalls, sich mit dem Thema „Wissensökonomie“ auseinanderzusetzen. Verschiedene wichtige Zweige der sozialwissenschaftlichen Forschung stellen die Wissensökonomie als das Ergebnis langfristiger Entwicklungstrends auf der Angebotsseite der Wirtschaft dar: eine allgemeine Zunahme der Bildungsabschlüsse kombiniert mit einer Form technischen Fortschritts, der Qualifizierte und Hochqualifizierte begünstigt, sowie neue Formen der Komplementarität von hoher Qualifikation und Kapital („Kolokation“). Argumentiert wird, dass diese Kombination einen Einstellungswandel der Wählerschaft und ein Verkümmern der traditionellen fordistischen Allianz zwischen Facharbeitskräften und angelernten Arbeits­­kräften nach sich zieht. Infolgedessen unterstützt der „maßgebliche“ Wähler nicht länger traditionelle Umverteilungsmaßnahmen, sondern begrüßt bereitwilliger „soziale Investitionen“. Das Management der Wissensökonomie wird als ein kompetentes Management angebotsorientierter Politik betrachtet, insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung von Humankapital und von Forschung und Entwicklung.

Doch ist die Wissensökonomie auch Teil einer grundlegenderen Verschiebung hin zum „Kapitalismus der intellektuellen Monopole“. Die Hierarchie der Spitzenunternehmen weltweit hat sich verändert. Unternehmen mit hohen materiellen Vermögenswerten wie General Motors sind durch Unternehmen mit hohen immateriellen Vermögenswerten wie Google und Facebook verdrängt worden. Das wichtigste Kapital dieser Unternehmen sind ihre Rechte an geistigem Eigentum, dessen wirtschaftlicher Wert von einem internationalen Regulierungssystem abhängt, das es schützt. Diese Unternehmen erzielen einen überproportionalen Anteil der globalen Unternehmensgewinne, die sie aber nur zum Teil mit ihrer Kernbelegschaft teilen. Vielmehr verwenden sie sie vornehmlich, um den Markteintritt neuer Wettbewerber zu verhindern, beispielsweise durch präventive Übernahmen. Diese Verschiebung hin zu immateriellem Kapital und Rechten an geistigem Eigentum hat bedeutende Auswirkungen auf die Nachfrageseite und trägt zu säkularer Stagnation bei, da Unternehmen, die auf immaterielles Kapital bauen, tendenziell deutlich weniger investieren und weniger Arbeitsplätze schaffen als die früheren Top-Unternehmen. Stattdessen neigen sie dazu, ihre Gewinne einzubehalten oder an ihre Aktionäre auszuschütten.

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Der überwiegend makroökonomisch orientierte Forschungsansatz zu Wachstumsmodellen findet am MPIfG mit der Forschung im Projektbereich „Wirtschaftssoziologie“ ein stärker mikroökonomisch orientiertes Pendant. Die inhärente Instabilität des Kapitalismus entstammt auch dem steten Drang der kapitalistischen Akteure, unternehmerisches Neuland zu erschließen – ein Drang, der durch die Mechanismen des wirtschaftlichen und sozialen Wettbewerbs sowie die Gewinnorientierung wirtschaftlicher Entscheidungen institutionalisiert wird. Zudem streben Verbraucher – motiviert durch gesellschaftliche Statuskonkurrenz und die Marketinganstrengungen von Unternehmen – nach neuen Konsumerlebnissen. Dadurch schaffen sie Raum für die Nachfrage nach einer scheinbar endlosen Flut neuer Produkte. Das permanente Streben nach Neuheit, dem das kapitalistische Wirtschaftssystem unterliegt, rückt zunehmend als ein Treiber und als die eigentliche Voraussetzung der Destabilisierung in den Fokus der Forschung.

In der jüngeren Vergangenheit hat das MPIfG zum Verständnis der Rolle von Zukunftserwartungen beigetragen, wobei es den Fokus auf die Erwartungen der Akteure als entscheidenden Treiber und Anpassungsmechanismus der kapitalistischen Dynamik gelegt hat. Entgegen dem vorherrschenden Verständnis der Makroökonomie werden Erwartungen nicht als abhängig von Informationen aus der Vergangenheit angesehen. Vielmehr werden sie als auf möglichen Vorstellungen künftiger Entwicklungen basierend betrachtet. „Fiktionale Erwartungen“ gestalten die kapitalistische Dynamik dann, wenn Akteure bestimmten Vorstellungen von der Zukunft Glaubwürdigkeit beimessen und sie zur Grundlage ihrer Entscheidungen machen. Angesichts der Ungewissheit der Zukunft und ihrer Gestaltbarkeit können fiktionale Erwartungen Orientierung in Entscheidungssituationen bieten und hierdurch die Ungewissheit reduzieren. Zugleich können sie jedoch die Ungewissheit erhöhen, da sie das Feld der imaginierten möglichen Ergebnisse erweitern. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, beruht die Instabilität des Kapitalismus auf der ihm inhärenten Orientierung an der Zukunft – und deren Unbestimmtheit.

Bei genauerer Betrachtung lässt sich die Bedeutung imaginierter Zukünfte in jedem Bereich wirtschaftlicher Entscheidungsfindung und Politikgestaltung entdecken. Sie gilt für Investitionen, die auf Einschätzungen künftiger Rentabilität beruhen müssen, für Innovationen, bei denen sich Forschungs- und Entwicklungsabteilungen sowie Investoren die technologische und marktliche Realisierbarkeit geplanter neuer Produkte vorstellen müssen, und selbst bei der Verwendung von Geld, dessen Wert von der Erwartung abhängt, es künftig für den Kauf werthaltiger Produkte verwenden zu können. Entscheidungen über die Humankapitalbildung hängen zum Teil von Vorstellungen über künftige berufliche Möglichkeiten ab. Der Wert von Finanzprodukten – seien es Anleihen, Aktien oder Derivate – beruht auf den Einschätzungen über deren künftige Wertentwicklung, einschließlich der Einschätzung der Erwartungen anderer Marktteilnehmer. Ein Verständnis der Prozesse des Entstehens und der Veränderung von Erwartungen ist wesentlich, um die makroökonomischen Prozesse Innovation, Wirtschaftswachstum, Konsumentennachfrage, Spekulationsblasen, Geldwertstabilität und Wirtschaftskrisen zu ergründen. Die Erforschung von Erwartungen schlägt auch eine Brücke zu Technologiestudien, da erwartete technologische Fortschritte unter den imaginierten Zukünften wirtschaftlicher Akteure weit oben rangieren.

Außerdem sind Prognosetechniken wie Vorhersagen, Szenario-Analysen oder Investitionsrechnungen bedeutende Anker für die Gestaltung der Narrative, auf denen Erwartungen beruhen. Der Ansatz ist gleichermaßen relevant für das Verständnis politischer Prozesse, in denen Entscheidungen ihre Legitimität in den in Aussicht gestellten Ergebnissen finden und es zu einer Krise kommt, wenn die geweckten Erwartungen enttäuscht werden. Die aktuelle politische Lage kann als eine Situation interpretiert werden, in der die imaginierten Zukünfte der neoliberalen Reformen ihre Strahlkraft verloren haben – nicht zuletzt aufgrund der von ihnen hervorgerufenen sozialen Ungleichheiten. Wenn Erwartungen in den Mittelpunkt einer Untersuchung kapitalistischer Dynamik gestellt werden, trägt dies zum Verständnis der immerwährenden Veränderungsprozesse bei, die als Instabilität erfahren werden, aber auch die hohe Stabilität des Systems garantieren. Der Kapitalismus bietet Raum für jegliche Vorstellung, die künftige Gewinne verspricht. Er stellt in normativer wie in substanzieller Hinsicht keine besonderen Anforderungen und ist dadurch besonders flexibel.

Das Fundament dieser Theorie der Erwartungen und ihre Relevanz für die kapitalistische Dynamik sind bereits in Forschungsarbeiten der vergangenen Jahre aufgezeigt worden. Die künftige Forschung am MPIfG wird diesen Ansatz weiterführen, um bedeutende empirische Phänomene des modernen Kapitalismus zu erforschen und dabei die Theorie weiterzuentwickeln. Dies gilt beispielsweise für die Frage nach den Quellen und Bedingungen der Glaubwürdigkeit bestimmter Erwartungen, der Beziehung zwischen Erwartungen und gemachten Erfahrungen sowie zwischen Erwartungen und Institutionen wie auch der Veränderung von Erwartungen in Krisensituationen. Empirisch erforschen die Projekte etwa die Rolle künftiger Erwartungen bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen oder die Bedeutung von Kalkulationsinstrumenten, deren Zweck es ist, Bilder von der Zukunft zu erschaffen, die bei der unternehmerischen Entscheidungsfindung verwendet werden. Das MPIfG wird die Forschung zu Erwartungen auch für das Verständnis dominanter Wachstumsmodelle sowie deren Stabilität und Veränderungen fruchtbar machen.

Darüber hinaus wird das MPIfG ein neues Forschungsfeld zum Thema Reichtum und Vermögensungleichheit aufbauen, das an abgeschlossene Arbeiten zur Vermögensvererbung und Erbschaftsbesteuerung anknüpft. Die Kehrseite des Nachfragedefizits, das durch die Verschiebung in der Einkommensverteilung weg von Arbeits- und hin zu Kapitaleinkommen entstanden ist, ist der Kapitalüberfluss. Dieser drückt sich in einem starken Anstieg der frei verfügbaren Vermögen an der Spitze der Einkommensverteilung sowie einer zunehmenden Vermögensungleichheit aus. Die Anhäufung riesiger Vermögen bei gleichzeitig fortschreitender Entkopplung von Erspartem (das zunimmt) und produktiv Investiertem (das zurückgeht) ist eine der Determinanten der säkularen Stagnation und der Instabilität wirtschaftlichen Wachstums.

Diese Entwicklung lässt sich auch aus dem Blickwinkel der Eigentümer von Privatvermögen betrachten. Der wachsende Kapitalstock konzentriert sich in den Händen einer sehr kleinen Gruppe von Wohlhabenden an der Spitze der Vermögensverteilung. Während Kapitalismus von Dynamik und Instabilität geprägt ist, weist der Besitz von Vermögen oft eine lang währende Kontinuität auf, in der Familienvermögen dynastisch über Generationen hinweg weitergegeben wird. Dies wirft Fragen zur sozialen Mobilität und sozialen Ungleichheit auf – Themen, die aktuell im Mittelpunkt vieler sozialwissenschaftlicher Untersuchungen stehen. Die Forschung am MPIfG zu diesem Thema wird große Vermögen empirisch und historisch zum einen auf Kontinuitäten und zum anderen auf Brüche hin untersuchen, die aus externen Schocks oder intrinsisch verursachten Misserfolgen resultieren können. In den Vordergrund der Forschung wird die Familie rücken – anstelle des Unternehmens –, da sie die Einheit ist, die Kontinuität sicherstellt: nicht nur im Familienkapitalismus des 19. Jahrhunderts, sondern auch im heutigen Asset-Manager-Kapitalismus. Wir werden weniger die Manager, sondern vielmehr die Eigentümer von Vermögen untersuchen. Unser Interesse zielt dabei insbesondere auf die Mechanismen zur Perpetuierung großer Vermögen ab. Dazu gehört auch der Einsatz von Rechtsinstrumenten, um Vermögen vor dem Zugriff des Staates zu schützen oder familiäre Konflikte zu begrenzen. Ebenso gilt es der Vermögenserhaltung durch Asset Management, der Herbeiführung wirtschaftlich vorteilhafter rechtlicher Regelungen durch Lobbyismus oder der Erzeugung gesellschaftlichen Wohlwollens durch philanthropisches Engagement. Wie werden privilegierte Positionen praktisch erhalten? Was verursacht Brüche in diesen Positionen? Forschungsprojekte werden auch die Frage beleuchten, wie Superreiche über die Gesellschaft und die eigene Position in ihr denken, und hiermit einen Beitrag zum Verständnis der ideellen Beschaffenheit der wirtschaftlichen Elite leisten. Im Hinblick auf die Gesellschaftstheorie werden die Projekte zum Verständnis der zentralen Eigenschaften moderner Gesellschaften beitragen. Während die Gesellschaftstheorie in der Mitte des 20. Jahrhunderts den pluralistischen Charakter des demokratischen Kapitalismus hervorhob, führten die Verschiebungen in der Verteilung von Vermögen und Macht im Lauf der vergangenen Jahrzehnte dazu, dass Begriffe wie Refeudalisierung oder oligarchischer Kapitalismus auftauchten – Begriffe, die zwar einen tief greifenden Wandel anzeigen, aber noch nicht das spezifisch Neue der Entwicklung fassen.

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Ein weiterer Forschungsbereich, den das MPIfG ausbauen möchte, ist die Untersuchung gesellschaftlicher Transformation durch technologischen Wandel. Dieser Bereich wird ebenfalls zur Erforschung der Instabilität des Kapitalismus beitragen, da Störungen durch technologische Neuerungen eine der Hauptursachen dieser Instabilität sind. Neue digitale Technologien führen zu einer Umverteilung der Risiken am Arbeitsmarkt. Dieser Trend wird sich auf die Präferenzen für Sozialprogramme ebenso wie auf Steuersysteme, Umverteilungsprozesse und die Parteibindung in der Wählerschaft auswirken. Technologischer Wandel und die verbesserten Möglichkeiten einer immer präziseren Überwachung der Arbeitsleistung können Arbeitsmärkte in Dienstleistungsmärkte für Arbeit verwandeln, was mangels eines regulatorischen Wandels enorme Auswirkungen auf den Schutz der Beschäftigten und die wirtschaftliche Ungleichheit haben könnte. 

In Politik und Demokratie erzeugt technologischer Wandel gegensätzliche Erwartungen zukünftiger Entwicklungen. Einerseits behebt die Digitalisierung das Problem der Komplexität von Daten, wodurch direkte Demokratie konkret möglich wird. Andererseits werden Regierungen (im In- und Ausland) sowie Interessenvertretungen hierdurch in die Lage versetzt, den demokratischen Prozess zu manipulieren und damit die politische Ordnung möglicherweise zu destabilisieren. Es kommt entscheidend darauf an, zu verstehen, wie diese gegensätzlichen Trends die Entwicklung der Demokratie gestalten.

Eine weitere Implikation neuer digitaler Technologien besteht im Totalverlust der Privatsphäre durch Daten sammelnde Unternehmen und den Staat, der das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger bis ins Kleinste überwachen kann. Technologien zur Verhaltensprognose ermöglichen völlig neue Dimensionen der Manipulation von Verbrauchern, aber auch vorhersagende Polizeiarbeit (Predictive Policing) oder das Anpassen von Kreditentscheidungen und Versicherungsverträgen entsprechend zunehmend verfeinerter Bewertungssysteme. Forschungsergebnisse belegen, dass dies leicht zu neuen Formen der Ungleichheit und Diskriminierung führen kann. Zudem prägen digitale Plattformen wie Facebook, YouTube oder Dating-Websites die Strukturen sozialer Interaktionen in der Gesellschaft nachhaltig. Schließlich können sich auch Stadtlandschaften dramatisch verändern: durch die Entwicklung der „Smart City“, in der jede Interaktion mit dem sozialen und physischen Umfeld eine Quelle von Daten darstellt, die aufgezeichnet und gespeichert werden können. Dies lässt eine effizientere Koordination zu, bietet jedoch auch vielfältige Gelegenheiten zu Überwachung und Nudging, mit negativen Folgen für die Freiheit des Einzelnen sowie die Privatsphäre.

Die Rolle des technologischen Wandels für die gesellschaftliche Dynamik wird zum Teil bereits jetzt in der Forschung des MPIfG reflektiert. Neue Technologien gehen aus Erwartungen hervor, anders ausgedrückt: aus Projektionen technologischer Entwicklungspfade. Solche Prozesse werden aktuell in Projekten untersucht, die einen Ansatz aus der Wissenschafts- und Technikforschung verwenden. Aus der Perspektive der Politischen Ökonomie betrachtet, wirken sich neue Technologien auf die Organisation der Produktion, die Verteilung von Risiken sowie das Niveau und die Zusammensetzung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage aus.

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Anknüpfend an das Thema der Instabilität des Kapitalismus gehörte die Untersuchung der Eurozone schon immer zu den Hauptachsen der Forschung am MPIfG. Bereits früh wurden die Probleme einer Währungsunion untersucht, die politisch und wirtschaftlich sehr verschiedene Länder zusammengeführt hat. Die Forschungsarbeiten antizipierten die Ungleichgewichte bei Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsbilanzen, die zur Staatsschuldenkrise ab 2010 führten. Später kritisierten die Forscherinnen und Forscher des MPIfG die Steuerungsmaßnahmen, die zur Eindämmung der Krise eingeleitet worden waren (verstärkte fiskalische Überwachung sowie strenge Auflagen für den Zugang zu Rettungsfonds), da sie sowohl die Output- als auch die Input-Legitimität beeinträchtigten.

Weitere Projekte am MPIfG zur Europäischen Union widmen sich den sozialen und kulturellen Prozessen, die der Befürwortung oder Ablehnung der europäischen Integration zugrunde liegen. Durch die Corona-Pandemie könnte die Eurokrise in eine neue Phase eintreten. Die Krisenreaktion wird weitere Staatsdefizite und Schulden hervorrufen, die zu erneuten Spannungen auf den internationalen Finanzmärkten und zwischen europäischen Regierungen führen könnten. Die Forschung am MPIfG zur Europäischen Union wird diese Entwicklungen aufmerksam verfolgen: Wird das Mandat der EZB weiter ausgebaut? Wird es Bestrebungen zur Kollektivierung von Staatsschulden in Eurobonds oder ähnlichen Finanzprodukten geben? Werden weitere Sparmaßnahmen kommen? Und werden politische Kräfte erstarken, die einen Austritt aus der Gemeinschaftswährung fordern? Welche Richtung die europäische Integration auch nimmt – klar ist, dass sich die Europäische Union einer Phase bisher nicht gekannter Instabilität und Ungewissheit gegenübersieht, die mit Ansätzen der Wirtschaftssoziologie wie auch der Politischen Ökonomie erforscht werden muss.

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In Anbetracht der dominanten Rolle der Finanzmärkte im modernen Kapitalismus und dessen Instabilität wird der Finanzsektor auch weiterhin einen wichtigen Platz auf der Forschungsagenda des MPIfG einnehmen. Die Forschung am MPIfG zu Finanzmärkten und dem Geldsystem hat viele Facetten, doch enthält sie zwei Schwerpunkte: die Erforschung öffentlicher Finanzen und Schuldenregime sowie der Geldpolitik von Zentralbanken. Zu den zentralen Veränderungen der vergangenen vierzig Jahre in der Beziehung zwischen Staat, Wirtschaft und Politik zählt, dass sich Staaten tendenziell aus der Rolle zurückgezogen haben, die sie bei der Verringerung von Ungleichheit mithilfe ihrer Steuersysteme und öffentlichen Ausgabenprogramme gespielt hatten. Ebenso befassen sie sich nicht mehr mit den Instabilitäten, die durch exzessive Finanzialisierung entstehen. Warum das so ist, ist für die Politische Ökonomie wie auch die Wirtschaftssoziologie eine entscheidende Frage. Eine weitere bedeutende Entwicklung, die wir beobachten, ist die immer wichtiger werdende Rolle der Zentralbanken bei der Steuerung privater und öffentlicher Investitionen und Schulden. Im Zuge dieser Entwicklung ist die Gestaltung der Erwartungen von Akteuren auf Finanzmärkten, Investoren und Verbrauchern zum vorherrschenden Werkzeug der Geldpolitik geworden. Die Forschung am MPIfG befasst sich mit dem Wandel der Zentralbankpolitik und untersucht, welche Instrumente die Zentralbanken einsetzen und wie sie ihr Handeln gegenüber Politik und Öffentlichkeit legitimieren.

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Gegenstand der Forschung am MPIfG werden auch weiterhin formale und informale Institutionen in historischer und vergleichender Perspektive sein. Institutionen spielen eine entscheidende Rolle, um die Integration, Stabilität und Funktionsfähigkeit jeglicher sozialen Ordnung sicherzustellen. Darüber hinaus erlaubt ein historisch-vergleichender Ansatz einen besonders weit reichenden Zugang zum Verständnis gesellschaftlicher Veränderungsprozesse. Dabei wird die Untersuchung von Institutionen Teil eines breiter angelegten Zugangs sein, der sowohl die wichtigsten politischen Maßnahmen – makroökonomische wie strukturelle – als auch die sozialen Koalitionen, die sie unterstützen, sowie die Rolle von Ideen, kognitiven Rahmen und Erwartungen umfasst. Institutionen, politische Prozesse und kognitive Rahmen stehen in wechselseitigen Beziehungen zueinander, in denen jedes Element die anderen stärkt oder schwächt und auf diese Weise zur Dynamik der sozialen Ordnung beiträgt. Institutionen spielen bei der Gestaltung politischer Maßnahmen eine bedeutende Rolle (ein Beispiel hierfür ist die Beziehung zwischen Zentralbankunabhängigkeit und der Geldpolitik), doch Gleiches gilt für die Wahlpolitik und das kulturspezifisch geprägte Situationsverständnis der Akteure.

Methodisch wird die Forschung am MPIfG historische, ethnografische, qualitative und quantitative Ansätze kombinieren. Dabei werden Methoden weiterhin als Werkzeuge angesehen, deren Anwendung von der Forschungsfrage abhängt, und nicht umgekehrt. Die Untersuchungen werden sowohl die mikro- als auch die meso- und makroanalytische Ebene abdecken. Häufiger als zuvor sollen große Umfragen durchgeführt werden, um die gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber verschiedenen Aspekten makroökonomischer und weiterer politischer Maßnahmen zu untersuchen. Weitere Methoden, wie etwa Umfrageexperimente, können angewendet werden, sofern die Forschungsfragen dies erfordern. Bei der Untersuchung der öffentlichen Meinung ist weder beabsichtigt, diese zu verdinglichen, noch vorzugeben, Individuen würden umfassend informiert oder rational oder konsistent handeln. Vielmehr geht es darum zu verstehen, wie sich die Präferenzen und Erwartungen von Individuen und Gruppen in Reaktion auf neue Informationen oder neue diskursive Rahmen verändern. Darüber hinaus soll der auf die Bildung von Präferenzen und Erwartungen gelegte Fokus einen fruchtbaren Austausch zwischen den verschiedenen Projektbereichen des MPIfG bewirken.

Köln, Oktober 2021

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