Das Forschungsprogramm des MPIfG

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Anknüpfend an das Thema der Instabilität des Kapitalismus gehörte die Untersuchung der Eurozone schon immer zu den Hauptachsen der Forschung am MPIfG. Bereits früh wurden die Probleme einer Währungsunion untersucht, die politisch und wirtschaftlich sehr verschiedene Länder zusammengeführt hat. Die Forschungsarbeiten antizipierten die Ungleichgewichte bei Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsbilanzen, die zur Staatsschuldenkrise ab 2010 führten. Später kritisierten die Forscherinnen und Forscher des MPIfG die Steuerungsmaßnahmen, die zur Eindämmung der Krise eingeleitet worden waren (verstärkte fiskalische Überwachung sowie strenge Auflagen für den Zugang zu Rettungsfonds), da sie sowohl die Output- als auch die Input-Legitimität beeinträchtigten.

Weitere Projekte am MPIfG zur Europäischen Union widmen sich den sozialen und kulturellen Prozessen, die der Befürwortung oder Ablehnung der europäischen Integration zugrunde liegen. Durch die Corona-Pandemie könnte die Eurokrise in eine neue Phase eintreten. Die Krisenreaktion wird weitere Staatsdefizite und Schulden hervorrufen, die zu erneuten Spannungen auf den internationalen Finanzmärkten und zwischen europäischen Regierungen führen könnten. Die Forschung am MPIfG zur Europäischen Union wird diese Entwicklungen aufmerksam verfolgen: Wird das Mandat der EZB weiter ausgebaut? Wird es Bestrebungen zur Kollektivierung von Staatsschulden in Eurobonds oder ähnlichen Finanzprodukten geben? Werden weitere Sparmaßnahmen kommen? Und werden politische Kräfte erstarken, die einen Austritt aus der Gemeinschaftswährung fordern? Welche Richtung die europäische Integration auch nimmt – klar ist, dass sich die Europäische Union einer Phase bisher nicht gekannter Instabilität und Ungewissheit gegenübersieht, die mit Ansätzen der Wirtschaftssoziologie wie auch der Politischen Ökonomie erforscht werden muss.

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In Anbetracht der dominanten Rolle der Finanzmärkte im modernen Kapitalismus und dessen Instabilität wird der Finanzsektor auch weiterhin einen wichtigen Platz auf der Forschungsagenda des MPIfG einnehmen. Die Forschung am MPIfG zu Finanzmärkten und dem Geldsystem hat viele Facetten, doch enthält sie zwei Schwerpunkte: die Erforschung öffentlicher Finanzen und Schuldenregime sowie der Geldpolitik von Zentralbanken. Zu den zentralen Veränderungen der vergangenen vierzig Jahre in der Beziehung zwischen Staat, Wirtschaft und Politik zählt, dass sich Staaten tendenziell aus der Rolle zurückgezogen haben, die sie bei der Verringerung von Ungleichheit mithilfe ihrer Steuersysteme und öffentlichen Ausgabenprogramme gespielt hatten. Ebenso befassen sie sich nicht mehr mit den Instabilitäten, die durch exzessive Finanzialisierung entstehen. Warum das so ist, ist für die Politische Ökonomie wie auch die Wirtschaftssoziologie eine entscheidende Frage. Eine weitere bedeutende Entwicklung, die wir beobachten, ist die immer wichtiger werdende Rolle der Zentralbanken bei der Steuerung privater und öffentlicher Investitionen und Schulden. Im Zuge dieser Entwicklung ist die Gestaltung der Erwartungen von Akteuren auf Finanzmärkten, Investoren und Verbrauchern zum vorherrschenden Werkzeug der Geldpolitik geworden. Die Forschung am MPIfG befasst sich mit dem Wandel der Zentralbankpolitik und untersucht, welche Instrumente die Zentralbanken einsetzen und wie sie ihr Handeln gegenüber Politik und Öffentlichkeit legitimieren.

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Gegenstand der Forschung am MPIfG werden auch weiterhin formale und informale Institutionen in historischer und vergleichender Perspektive sein. Institutionen spielen eine entscheidende Rolle, um die Integration, Stabilität und Funktionsfähigkeit jeglicher sozialen Ordnung sicherzustellen. Darüber hinaus erlaubt ein historisch-vergleichender Ansatz einen besonders weit reichenden Zugang zum Verständnis gesellschaftlicher Veränderungsprozesse. Dabei wird die Untersuchung von Institutionen Teil eines breiter angelegten Zugangs sein, der sowohl die wichtigsten politischen Maßnahmen – makroökonomische wie strukturelle – als auch die sozialen Koalitionen, die sie unterstützen, sowie die Rolle von Ideen, kognitiven Rahmen und Erwartungen umfasst. Institutionen, politische Prozesse und kognitive Rahmen stehen in wechselseitigen Beziehungen zueinander, in denen jedes Element die anderen stärkt oder schwächt und auf diese Weise zur Dynamik der sozialen Ordnung beiträgt. Institutionen spielen bei der Gestaltung politischer Maßnahmen eine bedeutende Rolle (ein Beispiel hierfür ist die Beziehung zwischen Zentralbankunabhängigkeit und der Geldpolitik), doch Gleiches gilt für die Wahlpolitik und das kulturspezifisch geprägte Situationsverständnis der Akteure.

Methodisch wird die Forschung am MPIfG historische, ethnografische, qualitative und quantitative Ansätze kombinieren. Dabei werden Methoden weiterhin als Werkzeuge angesehen, deren Anwendung von der Forschungsfrage abhängt, und nicht umgekehrt. Die Untersuchungen werden sowohl die mikro- als auch die meso- und makroanalytische Ebene abdecken. Häufiger als zuvor sollen große Umfragen durchgeführt werden, um die gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber verschiedenen Aspekten makroökonomischer und weiterer politischer Maßnahmen zu untersuchen. Weitere Methoden, wie etwa Umfrageexperimente, können angewendet werden, sofern die Forschungsfragen dies erfordern. Bei der Untersuchung der öffentlichen Meinung ist weder beabsichtigt, diese zu verdinglichen, noch vorzugeben, Individuen würden umfassend informiert oder rational oder konsistent handeln. Vielmehr geht es darum zu verstehen, wie sich die Präferenzen und Erwartungen von Individuen und Gruppen in Reaktion auf neue Informationen oder neue diskursive Rahmen verändern. Darüber hinaus soll der auf die Bildung von Präferenzen und Erwartungen gelegte Fokus einen fruchtbaren Austausch zwischen den verschiedenen Projektbereichen des MPIfG bewirken.

Köln, Oktober 2021

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