Das Forschungsprogramm des MPIfG

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Der überwiegend makroökonomisch orientierte Forschungsansatz zu Wachstumsmodellen findet am MPIfG mit der Forschung im Projektbereich „Wirtschaftssoziologie“ ein stärker mikroökonomisch orientiertes Pendant. Die inhärente Instabilität des Kapitalismus entstammt auch dem steten Drang der kapitalistischen Akteure, unternehmerisches Neuland zu erschließen – ein Drang, der durch die Mechanismen des wirtschaftlichen und sozialen Wettbewerbs sowie die Gewinnorientierung wirtschaftlicher Entscheidungen institutionalisiert wird. Zudem streben Verbraucher – motiviert durch gesellschaftliche Statuskonkurrenz und die Marketinganstrengungen von Unternehmen – nach neuen Konsumerlebnissen. Dadurch schaffen sie Raum für die Nachfrage nach einer scheinbar endlosen Flut neuer Produkte. Das permanente Streben nach Neuheit, dem das kapitalistische Wirtschaftssystem unterliegt, rückt zunehmend als ein Treiber und als die eigentliche Voraussetzung der Destabilisierung in den Fokus der Forschung.

In der jüngeren Vergangenheit hat das MPIfG zum Verständnis der Rolle von Zukunftserwartungen beigetragen, wobei es den Fokus auf die Erwartungen der Akteure als entscheidenden Treiber und Anpassungsmechanismus der kapitalistischen Dynamik gelegt hat. Entgegen dem vorherrschenden Verständnis der Makroökonomie werden Erwartungen nicht als abhängig von Informationen aus der Vergangenheit angesehen. Vielmehr werden sie als auf möglichen Vorstellungen künftiger Entwicklungen basierend betrachtet. „Fiktionale Erwartungen“ gestalten die kapitalistische Dynamik dann, wenn Akteure bestimmten Vorstellungen von der Zukunft Glaubwürdigkeit beimessen und sie zur Grundlage ihrer Entscheidungen machen. Angesichts der Ungewissheit der Zukunft und ihrer Gestaltbarkeit können fiktionale Erwartungen Orientierung in Entscheidungssituationen bieten und hierdurch die Ungewissheit reduzieren. Zugleich können sie jedoch die Ungewissheit erhöhen, da sie das Feld der imaginierten möglichen Ergebnisse erweitern. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, beruht die Instabilität des Kapitalismus auf der ihm inhärenten Orientierung an der Zukunft – und deren Unbestimmtheit.

Bei genauerer Betrachtung lässt sich die Bedeutung imaginierter Zukünfte in jedem Bereich wirtschaftlicher Entscheidungsfindung und Politikgestaltung entdecken. Sie gilt für Investitionen, die auf Einschätzungen künftiger Rentabilität beruhen müssen, für Innovationen, bei denen sich Forschungs- und Entwicklungsabteilungen sowie Investoren die technologische und marktliche Realisierbarkeit geplanter neuer Produkte vorstellen müssen, und selbst bei der Verwendung von Geld, dessen Wert von der Erwartung abhängt, es künftig für den Kauf werthaltiger Produkte verwenden zu können. Entscheidungen über die Humankapitalbildung hängen zum Teil von Vorstellungen über künftige berufliche Möglichkeiten ab. Der Wert von Finanzprodukten – seien es Anleihen, Aktien oder Derivate – beruht auf den Einschätzungen über deren künftige Wertentwicklung, einschließlich der Einschätzung der Erwartungen anderer Marktteilnehmer. Ein Verständnis der Prozesse des Entstehens und der Veränderung von Erwartungen ist wesentlich, um die makroökonomischen Prozesse Innovation, Wirtschaftswachstum, Konsumentennachfrage, Spekulationsblasen, Geldwertstabilität und Wirtschaftskrisen zu ergründen. Die Erforschung von Erwartungen schlägt auch eine Brücke zu Technologiestudien, da erwartete technologische Fortschritte unter den imaginierten Zukünften wirtschaftlicher Akteure weit oben rangieren.

Außerdem sind Prognosetechniken wie Vorhersagen, Szenario-Analysen oder Investitionsrechnungen bedeutende Anker für die Gestaltung der Narrative, auf denen Erwartungen beruhen. Der Ansatz ist gleichermaßen relevant für das Verständnis politischer Prozesse, in denen Entscheidungen ihre Legitimität in den in Aussicht gestellten Ergebnissen finden und es zu einer Krise kommt, wenn die geweckten Erwartungen enttäuscht werden. Die aktuelle politische Lage kann als eine Situation interpretiert werden, in der die imaginierten Zukünfte der neoliberalen Reformen ihre Strahlkraft verloren haben – nicht zuletzt aufgrund der von ihnen hervorgerufenen sozialen Ungleichheiten. Wenn Erwartungen in den Mittelpunkt einer Untersuchung kapitalistischer Dynamik gestellt werden, trägt dies zum Verständnis der immerwährenden Veränderungsprozesse bei, die als Instabilität erfahren werden, aber auch die hohe Stabilität des Systems garantieren. Der Kapitalismus bietet Raum für jegliche Vorstellung, die künftige Gewinne verspricht. Er stellt in normativer wie in substanzieller Hinsicht keine besonderen Anforderungen und ist dadurch besonders flexibel.

Das Fundament dieser Theorie der Erwartungen und ihre Relevanz für die kapitalistische Dynamik sind bereits in Forschungsarbeiten der vergangenen Jahre aufgezeigt worden. Die künftige Forschung am MPIfG wird diesen Ansatz weiterführen, um bedeutende empirische Phänomene des modernen Kapitalismus zu erforschen und dabei die Theorie weiterzuentwickeln. Dies gilt beispielsweise für die Frage nach den Quellen und Bedingungen der Glaubwürdigkeit bestimmter Erwartungen, der Beziehung zwischen Erwartungen und gemachten Erfahrungen sowie zwischen Erwartungen und Institutionen wie auch der Veränderung von Erwartungen in Krisensituationen. Empirisch erforschen die Projekte etwa die Rolle künftiger Erwartungen bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen oder die Bedeutung von Kalkulationsinstrumenten, deren Zweck es ist, Bilder von der Zukunft zu erschaffen, die bei der unternehmerischen Entscheidungsfindung verwendet werden. Das MPIfG wird die Forschung zu Erwartungen auch für das Verständnis dominanter Wachstumsmodelle sowie deren Stabilität und Veränderungen fruchtbar machen.

Darüber hinaus wird das MPIfG ein neues Forschungsfeld zum Thema Reichtum und Vermögensungleichheit aufbauen, das an abgeschlossene Arbeiten zur Vermögensvererbung und Erbschaftsbesteuerung anknüpft. Die Kehrseite des Nachfragedefizits, das durch die Verschiebung in der Einkommensverteilung weg von Arbeits- und hin zu Kapitaleinkommen entstanden ist, ist der Kapitalüberfluss. Dieser drückt sich in einem starken Anstieg der frei verfügbaren Vermögen an der Spitze der Einkommensverteilung sowie einer zunehmenden Vermögensungleichheit aus. Die Anhäufung riesiger Vermögen bei gleichzeitig fortschreitender Entkopplung von Erspartem (das zunimmt) und produktiv Investiertem (das zurückgeht) ist eine der Determinanten der säkularen Stagnation und der Instabilität wirtschaftlichen Wachstums.

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