Das Forschungsprogramm des MPIfG
Diese Entwicklung lässt sich auch aus dem Blickwinkel der Eigentümer von Privatvermögen betrachten. Der wachsende Kapitalstock konzentriert sich in den Händen einer sehr kleinen Gruppe von Wohlhabenden an der Spitze der Vermögensverteilung. Während Kapitalismus von Dynamik und Instabilität geprägt ist, weist der Besitz von Vermögen oft eine lang währende Kontinuität auf, in der Familienvermögen dynastisch über Generationen hinweg weitergegeben wird. Dies wirft Fragen zur sozialen Mobilität und sozialen Ungleichheit auf – Themen, die aktuell im Mittelpunkt vieler sozialwissenschaftlicher Untersuchungen stehen. Die Forschung am MPIfG zu diesem Thema wird große Vermögen empirisch und historisch zum einen auf Kontinuitäten und zum anderen auf Brüche hin untersuchen, die aus externen Schocks oder intrinsisch verursachten Misserfolgen resultieren können. In den Vordergrund der Forschung wird die Familie rücken – anstelle des Unternehmens –, da sie die Einheit ist, die Kontinuität sicherstellt: nicht nur im Familienkapitalismus des 19. Jahrhunderts, sondern auch im heutigen Asset-Manager-Kapitalismus. Wir werden weniger die Manager, sondern vielmehr die Eigentümer von Vermögen untersuchen. Unser Interesse zielt dabei insbesondere auf die Mechanismen zur Perpetuierung großer Vermögen ab. Dazu gehört auch der Einsatz von Rechtsinstrumenten, um Vermögen vor dem Zugriff des Staates zu schützen oder familiäre Konflikte zu begrenzen. Ebenso gilt es der Vermögenserhaltung durch Asset Management, der Herbeiführung wirtschaftlich vorteilhafter rechtlicher Regelungen durch Lobbyismus oder der Erzeugung gesellschaftlichen Wohlwollens durch philanthropisches Engagement. Wie werden privilegierte Positionen praktisch erhalten? Was verursacht Brüche in diesen Positionen? Forschungsprojekte werden auch die Frage beleuchten, wie Superreiche über die Gesellschaft und die eigene Position in ihr denken, und hiermit einen Beitrag zum Verständnis der ideellen Beschaffenheit der wirtschaftlichen Elite leisten. Im Hinblick auf die Gesellschaftstheorie werden die Projekte zum Verständnis der zentralen Eigenschaften moderner Gesellschaften beitragen. Während die Gesellschaftstheorie in der Mitte des 20. Jahrhunderts den pluralistischen Charakter des demokratischen Kapitalismus hervorhob, führten die Verschiebungen in der Verteilung von Vermögen und Macht im Lauf der vergangenen Jahrzehnte dazu, dass Begriffe wie Refeudalisierung oder oligarchischer Kapitalismus auftauchten – Begriffe, die zwar einen tief greifenden Wandel anzeigen, aber noch nicht das spezifisch Neue der Entwicklung fassen.
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Ein weiterer Forschungsbereich, den das MPIfG ausbauen möchte, ist die Untersuchung gesellschaftlicher Transformation durch technologischen Wandel. Dieser Bereich wird ebenfalls zur Erforschung der Instabilität des Kapitalismus beitragen, da Störungen durch technologische Neuerungen eine der Hauptursachen dieser Instabilität sind. Neue digitale Technologien führen zu einer Umverteilung der Risiken am Arbeitsmarkt. Dieser Trend wird sich auf die Präferenzen für Sozialprogramme ebenso wie auf Steuersysteme, Umverteilungsprozesse und die Parteibindung in der Wählerschaft auswirken. Technologischer Wandel und die verbesserten Möglichkeiten einer immer präziseren Überwachung der Arbeitsleistung können Arbeitsmärkte in Dienstleistungsmärkte für Arbeit verwandeln, was mangels eines regulatorischen Wandels enorme Auswirkungen auf den Schutz der Beschäftigten und die wirtschaftliche Ungleichheit haben könnte.
In Politik und Demokratie erzeugt technologischer Wandel gegensätzliche Erwartungen zukünftiger Entwicklungen. Einerseits behebt die Digitalisierung das Problem der Komplexität von Daten, wodurch direkte Demokratie konkret möglich wird. Andererseits werden Regierungen (im In- und Ausland) sowie Interessenvertretungen hierdurch in die Lage versetzt, den demokratischen Prozess zu manipulieren und damit die politische Ordnung möglicherweise zu destabilisieren. Es kommt entscheidend darauf an, zu verstehen, wie diese gegensätzlichen Trends die Entwicklung der Demokratie gestalten.
Eine weitere Implikation neuer digitaler Technologien besteht im Totalverlust der Privatsphäre durch Daten sammelnde Unternehmen und den Staat, der das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger bis ins Kleinste überwachen kann. Technologien zur Verhaltensprognose ermöglichen völlig neue Dimensionen der Manipulation von Verbrauchern, aber auch vorhersagende Polizeiarbeit (Predictive Policing) oder das Anpassen von Kreditentscheidungen und Versicherungsverträgen entsprechend zunehmend verfeinerter Bewertungssysteme. Forschungsergebnisse belegen, dass dies leicht zu neuen Formen der Ungleichheit und Diskriminierung führen kann. Zudem prägen digitale Plattformen wie Facebook, YouTube oder Dating-Websites die Strukturen sozialer Interaktionen in der Gesellschaft nachhaltig. Schließlich können sich auch Stadtlandschaften dramatisch verändern: durch die Entwicklung der „Smart City“, in der jede Interaktion mit dem sozialen und physischen Umfeld eine Quelle von Daten darstellt, die aufgezeichnet und gespeichert werden können. Dies lässt eine effizientere Koordination zu, bietet jedoch auch vielfältige Gelegenheiten zu Überwachung und Nudging, mit negativen Folgen für die Freiheit des Einzelnen sowie die Privatsphäre.
Die Rolle des technologischen Wandels für die gesellschaftliche Dynamik wird zum Teil bereits jetzt in der Forschung des MPIfG reflektiert. Neue Technologien gehen aus Erwartungen hervor, anders ausgedrückt: aus Projektionen technologischer Entwicklungspfade. Solche Prozesse werden aktuell in Projekten untersucht, die einen Ansatz aus der Wissenschafts- und Technikforschung verwenden. Aus der Perspektive der Politischen Ökonomie betrachtet, wirken sich neue Technologien auf die Organisation der Produktion, die Verteilung von Risiken sowie das Niveau und die Zusammensetzung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage aus.