Das Forschungsprogramm des MPIfG

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Ausgangspunkt für die Analyse des Kapitalismus, der als ein per se dynamisches System verstanden wird, ist ein Ungleichgewichtsansatz: Zwar können kapitalistische Ökonomien bisweilen ausgedehnte Stabilitätsphasen durchlaufen, doch selbst dann bleiben sie anfällig für interne Konflikte, da Akteure danach streben, die Konditionen des Status quo zum eigenen Vorteil zu verändern. Letztlich wird jede Stabilitätsphase aufgehoben – durch endogene Kräfte sowie exogen bewirkte Wandlungsprozesse, die eine neue Phase scheinbarer Stabilität einläuten können.

Für das MPIfG, das zur Etablierung der vergleichenden Kapitalismusforschung als Forschungsfeld erheblich beigetragen hat, gehört es zum Grundverständnis, dass es unterschiedliche Formen des Kapitalismus gibt, die weder nach Effizienzkriterien noch nach Reifegrad entlang eines evolutionären Entwicklungspfades angeordnet werden können. Frühere Forschungsergebnisse am MPIfG haben jedoch auch gezeigt, dass die verschiedenen „Spielarten des Kapitalismus“ nicht als institutionelle Gleichgewichte verstanden werden dürfen und allgemeinen Trends wie der Liberalisierung, der Finanzialisierung und zunehmender sozialer Ungleichheit unterliegen.

Die vergangenen zwei Jahrzehnte haben diesen Ungleichgewichtsansatz zur Erforschung der Wirtschaft in ihren Beziehungen zur Gesellschaft bestätigt. Die globale Finanzkrise von 2007 hat gezeigt, dass die Vorstellung einer „Great Moderation“, in der Konjunkturschwankungen gesteuert werden können, indem man Zentralbanken ihre Inflationsziele unabhängig von politischen Interventionen erreichen lässt, Märkte bei minimaler Regulierung effizient funktionieren und Arbeitslosigkeit dauerhaft durch eine Flexibilisierung der Institutionen des Arbeitsmarkts gesenkt werden kann, eine fromme Illusion gewesen war – und vielleicht auch ideologisch verbrämt. Es stellte sich heraus, dass Wachstum hochgradig abhängig von einem überdimensionierten Finanzsektor und darüber hinaus höchst ungleich verteilt war: Die meisten Erträge flossen dem inzwischen berüchtigten „Top-1-Prozent“ zu. Im Nachhinein betrachtet, war der durch die Finanzkrise verursachte Schock jedoch partiell und vorübergehend. Die massiven Interventionen der Zentralbanken – auch durch unorthodoxe Maßnahmen – trugen zu einer erneuten Stabilisierung der Wirtschaft bei und erzeugten den Eindruck, eine Rückkehr zur Normalität sei möglich. Doch gleichzeitig riefen sie neue Risiken, Ungleichheiten und Instabilitäten hervor.

Der Ausbruch der Corona-Pandemie im Jahr 2020 – ein weiterer „Schwarzer Schwan“, der zwar von einigen antizipiert, jedoch von politischen Entscheidungsträgern nicht ernsthaft für möglich erachtet worden war – hat einmal mehr die Rolle ungewisser Zukünfte und die Anfälligkeit des liberalisierten Kapitalismus vor Augen geführt. Er hat die Defizite eines Regulierungssystems enthüllt, das private Märkte mit der Lösung sozialer Probleme betraut. Die Abhängigkeit von privaten Anbietern für Dienstleistungen der Grundversorgung, die globale Organisation von Lieferketten sowie der Ruf nach Kürzungen von Gesundheits- und Sozialausgaben dürften künftig auf größere Widerstände stoßen. Die Globalisierung, die sich bereits vor der Corona-Krise in der Defensive befand, könnte abermals an einem historischen Wendepunkt stehen. Auch dies unterstreicht den Hauptansatzpunkt der Forschung am MPIfG, der besagt, dass wirtschaftliche Phänomene ausschließlich in ihrer Interaktion mit Politik und Gesellschaft verstanden werden können. Die Untersuchung der gesellschaftlichen Folgen dieser Krise sowie der politischen Antworten hierauf wird eine neue Aufgabe der Forschung im Bereich der Wirtschaftssoziologie und der Politischen Ökonomie sein.

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Wie werden sich diese Trends auf die Steuerung und Koordination entwickelter Gesellschaften auswirken? Demokratischer Kapitalismus braucht Wachstum. Zugleich unterliegt das System dem demokratischen Erfordernis, in regelmäßigen Zeitabständen eine tragfähige Wahlmehrheit sicherzustellen. In den vergangenen einhundert Jahren basierte die gesellschaftliche und politische Integration darauf, Verteilungskonflikte mithilfe wirtschaftlichen Wachstums zu befrieden und staatsbürgerlichen Erwartungen hinsichtlich materieller Verbesserungen nachzukommen. Doch schon lange vor der Großen Rezession schrumpften in allen entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften die Wachstumsraten und der Lebensstandard der Mehrheit der Bevölkerung stagnierte. Wie die Literatur zur „säkularen Stagnation“ zeigt, konnte Wachstum – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in der Nachkriegszeit – nur beibehalten werden, indem wiederholt auf außergewöhnliche Maßnahmen zur Stimulierung der Wirtschaft zurückgegriffen wurde, etwa die Nutzung regelmäßig auftretender Spekulationsblasen, eine immer lockerere Geldpolitik oder ein leichterer Zugang zu privater Verschuldung.

Ausgangspunkt der Forschung am MPIfG zur Politischen Ökonomie von Wachstumsmodellen ist die Annahme säkularer Stagnation. In den Nachkriegsjahren basierte wirtschaftliches Wachstum auf einem Modell, in dem die gesamtwirtschaftliche Nachfrage im Gleichschritt mit dem gesamtwirtschaftlichen Angebot wuchs – dank Institutionen, die sicherstellten, dass sich Produktivitätssteigerungen in Realeinkommen niederschlugen. Dieses „fordistische“ oder „lohnorientierte“ Wachstumsmodell wurde jedoch durch interne und externe Veränderungen untergraben. Aufgrund einer in den 1970er-Jahren einsetzenden Verschiebung der Einkommensverteilung weg vom Arbeits- und hin zum Kapitaleinkommen sahen sich entwickelte Länder einem Problem gegenüber, das durch exzessives Sparen sowie Nachfrageausfall gekennzeichnet war und dem sie mit der Aktivierung einer Reihe von alternativen Nachfragetreibern begegneten. In einigen Fällen wurde das Wachstum überwiegend durch den kreditfinanzierten Konsum der inländischen Haushalte aufrechterhalten, der durch den leichteren Zugang der Haushalte zur Verschuldung oder durch Wohlstandseffekte aus Vermögenswertsteigerungen (einschließlich Wohneigentum) möglich wurde. In anderen Fällen beruhte das Wachstum stark auf externer Nachfrage, was zu exportorientierten Wachstumsmodellen führte. Weitere Länder konnten mehrere Wachstumstreiber kombinieren, während wiederum andere keine Alternativen zum lohnorientierten Wachstumsmodell fanden. Die verschiedenen Wachstumsmodelle beruhen auf spezifischen Schlüsselsektoren und den damit verbundenen Koalitionen von zentralen Produzentengruppen.

Die Forschung im Projektbereich Politische Ökonomie wird den Ansatz der Wachstumsmodelle weiterentwickeln und dabei untersuchen, wie sich Krisen auf nationale Entwicklungspfade auswirken, vor allem im Hinblick auf eine künftig spürbar stärkere Rolle des Staates bei der Steuerung der Wirtschaft. Ein besonderes Augenmerk wird auf der politischen Dimension von Wachstumsmodellen liegen. Wir streben einen Mittelweg zwischen den politökonomischen Ansätzen der „Koalition der Produzentengruppen“ und der Erklärung durch Wahlverhalten an. Ersterer betont den Einfluss wirtschaftlicher Akteure und Interessengruppen auf politische Grundsatzentscheidungen. Letzterer hebt die Präferenzen der Wählerschaft als die wesentlichen Determinanten politischer Richtungsentscheidungen hervor. Beide Ansätze haben ihre Stärken und Schwächen. Der Ansatz der Koalition der Produzentengruppen kann oft überzeugend erklären, warum bestimmte politische Grundsatzentscheidungen getroffen werden, doch erachtet er es als nahezu selbstverständlich, dass demokratische Mehrheiten auch gebildet werden können. Der Ansatz, der das Wahlverhalten in den Mittelpunkt stellt, sieht sich dem entgegengesetzten Problem gegenüber: Er vernachlässigt, dass manche Interessen stärker wiegen als andere.

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