Das Forschungsprogramm des MPIfG

Das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung befindet sich zurzeit in der vierten Programmperiode seit seiner Gründung im Jahr 1985. Im Mittelpunkt der Forschungsprogramme stand und steht – aus jeweils unterschiedlicher Perspektive betrachtet – die Steuerung und Koordination moderner Gesellschaften. Reale Veränderungen in der Organisation von Wirtschaft und Politik führten zur Formulierung neuer forschungsleitender Fragen und spiegeln sich in den Änderungen des Programms ebenso wider wie die Berufung neuer Direktoren, die neue Forschungsakzente setzten.

Schwerpunkt der ersten Programmperiode von 1986 bis 1995 waren historisch und international vergleichende Untersuchungen zur Interaktion zwischen staatlicher Steuerung und gesellschaftlicher Selbstorganisation in ausgewählten staatsnahen Sektoren. Besonderes Forschungsinteresse richtete sich dabei auf Gesundheitssysteme, Wissenschafts- und Forschungssysteme sowie technische Infrastrukturen, vor allem die Telekommunikation. Ziel war eine realistische, praktisch anwendbare sozialwissenschaftlich fundierte Theorie der Steuerung und Koordination moderner Gesellschaften durch das Zusammenwirken eines interventionistischen Staates und einer sich selbst organisierenden Gesellschaft.

Die zweite Programmperiode von 1996 bis 2005 war eine Antwort auf die wachsende Bedeutung von Märkten und Wettbewerb selbst in jenen Sektoren, die früher staatlich geschützt und kontrolliert waren. So wurde beispielsweise der Telekommunikationssektor, der bis in die Mitte der 1990er-Jahre als Staatsmonopol organisiert war, privatisiert und dereguliert. Ideologischer Wandel und eine veränderte öffentliche Wahrnehmung der Wirklichkeit mögen dazu beigetragen haben, dass in den 1990er-Jahren Märkte zunehmend an Bedeutung gewannen. Ein weiterer Grund war aber ein langfristiger Rückgang nationalstaatlicher Regulierungskapazitäten als Folge der Internationalisierung – einschließlich der europäischen Integration – und des internationalen Regimewettbewerbs. Daraufhin wurden die neu entstehenden Formen der Mehrebenenpolitik sowie die Folgen wirtschaftlicher Liberalisierung für Staaten und Regierungen zu Forschungsschwerpunkten am MPIfG.

Schwerpunkt der dritten Programmperiode von 2006 bis 2016 war die Untersuchung des Übergangs von staatlicher Regulierung zu marktorientierten Formen sozialer Ordnung, wobei den sozialen, kulturellen und politischen Voraussetzungen des Funktionierens von Märkten besondere Aufmerksamkeit zukam. Die Projekte erforschten zum einen, wie Märkte und Unternehmen in historische, institutionelle, politische und kulturelle Zusammenhänge eingebettet sind. Zum anderen untersuchten sie die sozialen und politischen Prozesse, die wirtschaftliche Beziehungen im Zeitablauf gestalten. Ziel war die Entwicklung eines empirisch fundierten Verständnisses der sozialen und politischen Grundlagen – oder auch der „Verfassung“ – moderner Wirtschaftsordnungen sowie der Zusammenhänge zwischen sozialem, politischem und wirtschaftlichem Handeln. Ein spezielles Augenmerk lag auf der Untersuchung des Liberalisierungsprozesses, den die verschiedenen Sphären entwickelter Gesellschaften durchliefen, sowie der daraus folgenden „Entbettung“ der kapitalistischen Wirtschaft aus der Obhut von Politik und Staat.

Auch in der aktuellen Programmperiode steht die Wirtschaft im Mittelpunkt der Forschungsagenda. Das Durchdringen der Funktionsweise der Wirtschaft ist eine Voraussetzung für das Verstehen weiterer sozialer Lebensbereiche, einschließlich der politischen Prozesse. Der Ansatz des Instituts besteht aber nicht darin, das Instrumentarium der Wirtschaftswissenschaften auf die Untersuchung gesellschaftlicher und politischer Phänomene anzuwenden. Vielmehr geht es darum, soziologische und politikwissenschaftliche Theorien und Methoden für ein Verständnis wirtschaftlicher Phänomene und ihres Verhältnisses zu gesellschaftlichen und politischen Prozessen fruchtbar zu machen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Kapitalismus als historisch bedingter soziopolitischer Ordnung. Besonderes Interesse gilt zum einen seiner Instabilität, die sich in der zunehmenden Schwierigkeit zeigt, die materiellen und ideellen Ressourcen zu erzeugen, die für seine Reproduktion erforderlich sind. Zum anderen richtet es sich auf die vielfältigen Herausforderungen für die Gesellschaft und die Prozesse der demokratischen Politik, die durch diese Instabilität entstehen. Erst durch die Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft werden wirtschaftliche Dynamiken und gesellschaftliche Entwicklungen im Ganzen erkennbar.

In dieser breit gefächerten Ausrichtung setzt das Institut weiterhin auf eine enge Verzahnung von Wirtschaftssoziologie und Politischer Ökonomie. Während die Politische Ökonomie vorrangig Phänomene auf der Makroebene zu erklären sucht, liegt die spezielle Stärke der Wirtschaftssoziologie in ihrer Ausrichtung auf die Mikroebene gesellschaftlicher Interaktionen in der Wirtschaft. Diese beiden Traditionen in einen engen Dialog miteinander zu bringen und in einer für beide Seiten fruchtbaren Weise anzuwenden, betrachten wir als ein wichtiges Ziel der Forschung am MPIfG. Dies bedeutet, auch der Frage der Bildung von Präferenzen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, da sie von kognitiven Rahmenbedingungen, sozialen Beziehungen und Institutionen beeinflusst werden. Dazu gehört auch, die Rolle von Erwartungen ernst zu nehmen und diese in ihren sozialen Kontexten zu untersuchen. Erforscht werden die konkreten historischen Prozesse der Entstehung und Verbreitung von Erwartungen. Ebenso muss die Rolle kollektiver Akteure, neuer digitaler Technologien sowie der Medien, die alle an der Ausgestaltung von Präferenzen beteiligt sind, berücksichtigt werden. Und schließlich erfordert die Verzahnung von Wirtschaftssoziologie und Politischer Ökonomie, die Interaktionen von Akteuren als eingebettet in soziale und politische Kräftefelder zu verstehen, in denen einige Akteure nicht nur die Fähigkeit haben, Tauschergebnisse zum Vorteil beider Seiten herbeizuführen, sondern auch – direkt oder indirekt – anderen ihre Präferenzen aufzuzwingen. 

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