Roy Karadag

15. September 2019

Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Geschäftsführer am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS) der Universität Bremen | Doktorand und Postdoktorand am MPIfG von 2006 bis 2011

Ich bin zwar schon eine Weile nicht mehr am MPIfG, blicke und denke aber oft zurück und gehe heute noch Notizen und Ideenschnipsel von damals durch. An Prägungen war die Zeit wirklich nicht arm: die Seminare in Wirtschaftssoziologie, unsere montäglichen Doktorandenkolloquien (unvergessen ist für mich das Klassiker-Programm nach Ausbruch der Finanzkrise, als wir uns nicht nur mit Tocqueville, Boltanski und Chiapello sowie Sennett befassten, sondern Ralf Dahrendorf höchstpersönlich zur Lektüre und Diskussion seines Class and Class Conflict in Industrial Society erleben durften), die IMPRS Summer Conference in Chicago 2008, die Tagung Commonalities of Capitalism auf Schloss Ringberg im August 2009 und die vielen spannenden Gastvorträge. Dies alles hat die Jahre am MPIfG zu einer unschätzbaren intellektuellen Bereicherung gemacht und die Eindrücke und Erfahrungen lassen mich bis heute nicht los.

Bleibt die Frage, was ich aus all ­diesen Inspirationen gemacht habe: In den 2000er-Jahren war es opportun, eigene Typologien zu kapitalistischen Ordnungen zu entwickeln. Also tat ich das auch und fand in dem, was ich oligarchischen Kapitalismus nannte, eine angemessene Heuristik zur Ergründung des Weltzustands in Zeiten von ökonomischer und politischer Liberalisierung: Dieser ist geprägt von nicht zu regulierendem Wettbewerb unter Politikern, Bürokraten und Kapitalisten. Solch ein Machtwettstreitgeflecht macht es schier unmöglich, ­gegen Korruption und Machtmissbrauch vorzugehen; es sei denn, man selbst akkumuliert als Akteur oder Organisation mehr Macht als die anderen, bevor man wieder vor dem Dilemma steht, wie diese neue Übermacht gesellschaftlich zu binden ist.

Die Analyse solcher Oligarchisierungen ist überaus anschlussfähig: Will man verstehen, warum formale ökonomische Institutionen nicht wirken, wie sie sollen, warum es unter den gegebenen Bedingungen fast ausgeschlossen ist, ­gegen Korruption vorzugehen (unabhängig davon, wie viel wir inzwischen über ihre Mechanismen wissen und wie ­viele internationale Organisationen sich dem Anti-Korruptionskampf verschrieben haben), warum es so schlecht um die Qualität von Demokratien bestellt ist und warum Menschen autokratischen Ordnungen gegenüber durchaus aufgeschlossen sind, sollte man wissen (wollen), wie in der Geschichte der Welt Kapitalismus und Oligarchisierung zusammenwirken.

»Bei meiner Ankunft in Köln vor dreizehn Jahren war der Neoliberalismus noch unangreifbar.«

Die Welt war eine andere bei meiner Ankunft in Köln vor dreizehn Jahren: Der Neoliberalismus war unangreifbar, die Immobilienpreise kannten nur eine Richtung, Finanzkrisen fanden hauptsächlich in peripheren Orten des Kapitalismus statt, Deutschland überwand gerade erst seine Rekordarbeitslosen­zahlen, EU-Verfassungsideen waren noch in aller Munde, die Türkei hatte noch demo­kratische Institutionen, und George W. Bush war zum denkbar schlechtesten US-Präsidenten überhaupt avanciert, nachdem klarwurde, was für eine Katastrophe der Irakkrieg von 2003 darstellen sollte. Die jüngeren Transformationen dieser Zustände habe ich nicht mehr am MPIfG, sondern als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Interkulturelle und Internationale ­Studien ­(InIIS) der Universität Bremen erlebt, wohin es mich im März 2011 zog.

»Wie aus dem Gemisch aus An- und Widersprüchen in der heutigen Welt Politik gemacht wird, interessiert und verstört mich zugleich.«

Seitdem beschäftigen mich Fragen wie: Warum gibt es in der Türkei keine Demokratie? Welche Ansprüche macht die Türkei international geltend? Warum ist der Syrische Krieg so zerstörerisch? Was bedeutet es, dass die geballte Macht des „Westens“ es nicht schafft, eine ansatzweise stabile Ordnung in Afghanistan zu errichten? Woher kommt dieses Unvermögen und was sind dessen Folgen? Am spannendsten bleibt für mich aber folgender Komplex: Es gibt immer mehr zuverlässiges akademisches Wissen über die Bedingungen für gute Regierungsführung, hohe Demokratiequalität, effektive Staatlichkeit, bessere Armutsbekämpfung und für friedliche Konfliktlösungen. Dennoch lässt sich dieses Wissen gar nicht oder nur auf sehr widersprüchliche Art und Weise in der Welt da draußen umsetzen. Gleichzeitig steigen Ansprüche und die Hoffnung auf wirksame wissensbasierte Autorität, obwohl diese nur enttäuschen kann. Wie in und mit diesem Gemisch aus An- und Widersprüchen Politik in der heutigen Welt gemacht wird, interessiert und verstört mich zugleich. Am Fallbeispiel von ägyptischer Sozialpolitik untersuche ich diese Dynamik seit 2018 im Teilprojekt „Transnationale Wohlfahrt in Afrika“ im Sonderforschungsbereich 1342 „Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik“.

Darüber hinaus halte ich regelmäßig Vorträge zu Konflikten in der Türkei und im Nahen Osten sowie zum Komplex Islam und Politik. Als Wissenschaftlicher Geschäftsführer des InIIS habe ich inzwischen häufiger die Ehre, in der Öffentlichkeit Auskunft über die Logik von Konfliktdynamiken zu geben, und mache mir wie viele andere immer mehr Gedanken darüber, wie Politik gut beziehungsweise besser zu erklären und zu vermitteln ist. Auf der Suche nach ­neuen Formaten kamen wir am InIIS darauf, dass eine politische Sprechstunde für Bürgerinnen und Bürger eine Möglichkeit sein könnte, den Austausch zwischen Wissenschaft und der Stadtbevölkerung in Bremen und darüber hinaus zu stärken. Noch läuft dieses Angebot ­etwas schleppend an, weil das Konzept der Politiksprechstunde erst einmal gewöhnungsbedürftig ist. Aber wir werden diese Idee der offenen Tür für alle, die mehr über politische Zusammenhänge erfahren und mit uns diskutieren wollen, weiter ausbauen.

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