Die Mikrofundierung der Finanzialisierung: Statusangst und Konsumentenkredite in Chile
Felipe González
Chile scheint ein Musterbeispiel für die Finanzialisierung des privaten Konsums zu sein, also dafür, dass sich gesellschaftlicher Wandel aufgrund der zunehmenden Bedeutung der Kredit- und Kapitalmärkte auch jenseits des Finanzsystems vollzieht: Nach der Einführung neoliberaler politischer Maßnahmen – der Liberalisierung des Handels, der Kommerzialisierung, der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts sowie Einschnitten bei den Sozialausgaben – weitete sich der Markt für Konsumentenkredite in dem Land dynamisch aus.
Begünstigt durch die von Kaufhäusern in den 1970er-Jahren hervorgebrachten Finanzinnovationen durchdrangen Konsumentenkredite den chilenischen Markt in den späten 1980er-Jahren zunächst langsam, bevor dann in den vergangenen zwei Jahrzehnten ein Boom einsetzte (Abb. 1). Bis zum Jahr 1995 waren bereits anderthalb Millionen Haushalte mit Konsumschulden belastet, unter den fünfzehn Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern des Landes waren fünf Millionen Kreditkarten im Umlauf. Zehn Jahre später besaßen mindestens zwanzig Millionen chilenische Familien eine Kreditkarte und 63,4 Prozent aller Haushalte hatten Konsumschulden – gleichmäßig verteilt über alle Einkommensgruppen.
Dennoch stellt der Fall Chile die in der Literatur dargelegten Erklärungsansätze infrage. Häufig basieren diese auf der jüngeren Vergangenheit entwickelter Länder und gehen davon aus, dass sich die Finanzialisierung des Konsums in Kontexten stagnierender Löhne und einer allgemeinen Verschlechterung der Situation der Mittelschichten vollzieht. Somit bringen sie zwei Erklärungen hervor, die auf den Fall Chile nicht in vollem Umfang zutreffen – und auf andere Entwicklungsländer möglicherweise auch nicht.
»Stagnierende Löhne und eine allgemeine Verschlechterung der Situation der Mittelschichten sind häufig Ursachen für die Finanzialisierung des Konsums – nicht so in Chile.«
Erklärungen für steigende Privatverschuldung
Einerseits argumentieren Ökonomen, dass Menschen mit mittlerem Einkommen in einer Situation der Einkommensungleichheit Konsumschulden eingehen, um den Lebensstil der Wohlhabenden nachzuahmen. Ungleichheit verstärke soziale Unterschiede, da hier durch Reichtum an der Spitze der Gesellschaft konzentriert werde. Zusammen mit stagnierenden Löhnen im Bereich der mittleren Einkommen erzeuge dies Druck auf die Nichtvermögenden, die steigenden Ausgaben bessergestellter Verbraucherinnen und Verbraucher nachzuahmen. Einkommensungleichheit wird somit implizit als eine Form der sozialen Differenzierung betrachtet, bei der eine Gruppe – die Wohlhabenden – das Konsumverhalten aller übrigen – der Nichtvermögenden – beeinflusst. Daher setzen letztere in großem Umfang Kredite ein, um die Lücke zwischen ihren steigenden Ambitionen und ihren wirtschaftlichen Beschränkungen (Lohnstagnation) zu schließen.
Andererseits hat nach der Finanzkrise von 2007/2008 in der Literatur zur Finanzialisierung eine politökonomische Erklärung für die steigende Privatverschuldung an Bedeutung gewonnen. Sie hebt hervor, dass die Verschuldung der Haushalte durch neoliberale politische Maßnahmen ausgelöst wurde. Infolgedessen wurde die Finanzlast vom Staat auf die Haushalte verlagert. Dieser Prozess wird als "Privatisierung von Risiken" bezeichnet: Verbraucherinnen und Verbraucher mit mittleren Einkommen nehmen Kredite nicht etwa auf, um den aufwendigen Konsum der Bessergestellten nachzuahmen. Sie tun dies vielmehr, um sich vor dem Hintergrund steigender Lebenshaltungskosten, schwankender Kurse an den Märkten und stagnierender Löhne ihren "Konsum zu erleichtern" und ihren finanziellen Verpflichtungen nachzukommen. Diese beiden Erklärungen treffen allerdings nicht für Entwicklungsländer zu. Sie erklären weder die entscheidenden Charakteristika der Verschuldung im Allgemeinen noch der Verschuldung chilenischer Haushalte im Besonderen. Im Hinblick auf mindestens zwei wesentliche Aspekte liefern sie keine Antworten.
Gründe für die steigende Privatverschuldung in Chile
Die zunehmende Privatverschuldung in Chile ist erstens auf ein Wirtschaftswachstum ohnegleichen sowie auf eine erhebliche Verbesserung des Lebensstandards weiter Teile der Bevölkerung zurückzuführen.
Zweitens verschulden sich Chilenen nicht, um Notlagen zu bewältigen und sich ihren Konsum zu erleichtern. Vielmehr erweitern sie ihre Kaufkraft, um alltägliche Waren einzukaufen. Diese Konsumenten möchten nicht unbedingt an Status gewinnen, indem sie Besitz in Form von Luxusgütern, exklusiven Urlaubsreisen, modischer Kleidung und teuren Autos zur Schau stellen. Stattdessen erwerben Chilenen gängige, langlebige und in vielen Fällen "unsichtbare" Gebrauchsgüter. Sie verwenden Konsumentenkredite also für das, was Experten in Verbraucherstudien als "gewöhnlichen Konsum" bezeichnen: Waren wie etwa Küchengeräte, Bauzubehör, Standardmobiliar und Elektronik. Sie nutzen ihre Kaufhaus-Kreditkarte nach eigener Aussage für Dinge, die sie als "notwendig" erachten. Denn in vielen Fällen ist der "Kauf von Notwendigem" gleichbedeutend mit der Pflege von Beziehungen, etwa durch Geschenke zu Geburtstagen, Hochzeiten oder anderen Feierlichkeiten. Chilenen verwenden ihre Kreditkarten also nicht, um Zugang zu vorher unerschwinglichen Waren zu erhalten, sondern um Waren in besserer Qualität zu erstehen, zu denen sie bereits Zugang haben. Kaufhäuser wurden für viele Menschen zu dem Ort, der Güter bereitstellt, auf die sie ein Anrecht haben.
»Ein Wirtschaftswachstum ohnegleichen sowie gewöhnlicher Konsum haben in Chile zu einer Ausweitung der Privatverschuldung und einer erheblichen Verbesserung des Lebensstandards geführt.«
Die Finanzialisierung des privaten Konsums in Chile wirft also zwei bedeutsame Fragen auf. Erstens, warum verschulden sich Menschen in Anbetracht von Wirtschaftswachstum und Aufwärtsmobilität? Und zweitens, falls weder defensiver Konsum noch Geltungskonsum das Verhalten der Verbraucher motiviert: Welche Rolle spielt dann der sozial konstruierte Lebensstandard?
Die meisten chilenischen Familien verwenden Kredite, um ihre Klassenidentitäten auszuleben und den Konsumstandards zu entsprechen, zu denen sie sich berechtigt fühlen. Sie wollen also ihre Zugehörigkeit zu einer "imaginären Mittelschicht" zeigen, betrachten Kredite als eine Quelle der Anerkennung und als ein Mittel, um das Stigma der Armut abzulegen. Ausgehend von der Vorstellung, dass private Verschuldung die Lücke zwischen Einkommen und einem sozial konstruierten Lebensstandard schließen soll, kann daher die Finanzialisierung im Fall Chiles durch drei nuancierte Mechanismen erklärt werden: erstens durch "vorgetäuschte Aufwärtsmobilität", zweitens durch "relative Deprivation" und drittens durch "Einkommensabflüsse". Anders als die gängigen Diskurse, in denen armen Menschen ein stark auf Konsum ausgerichtetes Verhalten nachgesagt wird, geht diese Erklärung folglich davon aus, dass ihre Verschuldung weniger durch Geltungs- oder defensiven Konsum begründet ist. Eher beruht sie auf dem Zusammenspiel einer fortschreitenden Anhebung des Lebensstandards und mangelnden Möglichkeiten, diesen Erwartungen zu entsprechen.
Vorgetäuschte Aufwärtsmobilität
Unter den ärmeren Verbraucherinnen und Verbrauchern Chiles kurbelt folgender Mechanismus die Kreditnachfrage an: Durch sozialpolitische Maßnahmen, die sich insbesondere an die einkommensschwächsten zwanzig Prozent der Haushalte richteten – die durchschnittlich fünfundvierzig Prozent ihres Budgets für Lebensmittel und Verkehrsmittel ausgeben –, konnten viele Familien die Armutsgrenze überwinden. Das heißt, sie nehmen monatlich etwa 170 US-Dollar ein. Hierdurch konnten sie zu Hauseigentümern werden und ihre materielle Lage verbessern. Doch gingen dieser neue Lebensstandard und die steigenden Ambitionen nicht mit besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt einher, was viele Familien von neuen Konsumtrends in der chilenischen Gesellschaft ausschloss. In diesem Kontext "vorgetäuschter Aufwärtsmobilität" wurde "absolute Armut" durch "relative Armut" ersetzt.
Mithilfe staatlicher Unterstützung wurden chilenische Familien zu Hauseigentümern und konnten die bitterste Armut hinter sich lassen. Sie lernten dadurch, wie sie Kleinkredite in ihre Budgets einbauen, Raten pünktlich abbezahlen und einen dauerhaften Zugang zu Gütern sicherstellen, die sie sich sonst nicht hätten leisten können. Die Statusangst dieser Verbraucherinnen und Verbraucher zeigt sich auf zweierlei Weise: Einerseits fühlen sie sich von den Vorteilen des Wirtschaftswachstums ausgeschlossen, obwohl sich ihre Lage nachweislich verbessert hat. Andererseits neigen sie aufgrund der durch sozialpolitische Maßnahmen ermöglichten "vorgetäuschten Aufwärtsmobilität" dazu, ihren tatsächlichen Status überzubewerten. Dies führt dazu, dass sie ihre neuen Häuser besser ausstatten und einrichten, damit sie ihren neuen und "authentischen" Klassenidentitäten entsprechen. Der Schritt zum Hauseigentümer und der zum Einzug ins Eigenheim sind somit wichtige Meilensteine, wenn es um Kreditaufnahme und den Umgang mit Schulden als Bestandteil alltäglicher Wirtschaftspraktiken geht.
Relative Deprivation
Ein weiterer Mechanismus, der zur Verschuldung von Menschen aus der Mittelschicht führt, hat seinen Ursprung in gestiegenen Reallöhnen und einer hohen Einkommensungleichheit. Er wird durch "relative Deprivation" erklärt, ein soziologisches Prinzip, das besagt, dass die allgemeine Zufriedenheit mit der eigenen Einkommens-, Besitz- oder Statussituation nicht in absoluten Größen bewertet wird – wie etwa mittels des Gesamteinkommens –, sondern in Relation zu Referenzgruppen. Sie resultiert aus gestiegenen Reallöhnen, die die Aufwärtsmobilität von Verbrauchern mit mittleren Einkommen begünstigen. Vor dem Hintergrund der Aufwärtsmobilität aller Einkommensgruppen und anhaltender Ungleichheit verbessert sich deren Lebensstandard zwar absolut betrachtet, relativ betrachtet bleiben soziale Mobilität und materielle Verbesserungen jedoch unbemerkt. Dies löst relative Deprivation aus, die sich unter Menschen mit mittleren Einkommen in einer Unzufriedenheit mit dem eigenen Einkommen ausdrückt.
Anders als der bei der armen Bevölkerung wirkende Mechanismus der vorgetäuschten Aufwärtsmobilität ist die Statusangst chilenischer Haushalte mit mittleren Einkommen dadurch gekennzeichnet, dass sie ihren tatsächlichen Status unter- und gleichzeitig den Reichtum anderer überschätzen. Diese Verbraucher ahmen nicht das Verhalten höherer sozialer Schichten nach, sie schließen vielmehr die Lücke zwischen ihren Einkommen und Ambitionen durch das Ausleben der Zugehörigkeit zu einer "imaginären Mittelschicht".
Für einige Verbraucher, die über kein eigenes Lohneinkommen verfügen – etwa die auf das Geld ihrer Partner angewiesenen Hausfrauen –, bieten Kaufhaus-Kreditkarten damit auch die Erfahrung finanzieller Unabhängigkeit. Eine solche kennen sie durch den Arbeitsmarkt nicht. Auf diese Weise stellt ein Kredit jedoch für sie die Möglichkeit dar, die wirtschaftliche Unabhängigkeit der "imaginären Mittelschicht" zu erfahren: So kann man ausgehen, ohne vorheriges Sparen einkaufen und impulsive, außergewöhnliche oder ungeplante Käufe tätigen.
Einkommensabflüsse
Die Kommerzialisierung von Bildung, Gesundheit und Altersvorsorge in Chile veranlasst Menschen zwar nicht unmittelbar dazu, Konsumschulden aufzunehmen. Doch diese Entwicklungen verlangen Familien aus der Mittelschicht höhere Anteile des "verfügbaren Einkommens" ab und fungieren so als Mechanismen, die einen "Einkommensabfluss" bewirken. Im Zusammenspiel mit der "relativen Deprivation" lassen diese Mechanismen zum "Einkommensabfluss" Familien nur wenige Möglichkeiten, ihre angestrebten Klassenidentitäten zu verwirklichen – es sei denn, sie lernen, mithilfe von Kaufhaus-Kreditkarten Ressourcen aus der Zukunft in die Gegenwart zu transferieren.
In gesellschaftlichen Situationen, die von aufstrebenden Mittelschichten und anhaltender sozialer Ungleichheit geprägt sind, füllen Verbraucherkredite somit die Lücke zwischen anspruchsvolleren Lebensstandards und einer ungleichen Verteilung der Vorteile des Wirtschaftswachstums. Solch ein Verhalten kann sich in anderen Entwicklungsländern, die bei steigenden Reallöhnen Finanzialisierungsprozesse durchlaufen, durchaus wiederholen.