Achim Goerres
Professor für Empirische Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen | Postdoktorand am MPIfG von 2006 bis 2008
Mein Weg als Postdoc ans MPIfG führte seltsamerweise über eine Ausschreibung für angehende Doktoranden. Wolfgang Streeck suchte im Sommer 2006 jemanden für ein Projekt mit der Leopoldina-Akademie der Naturwissenschaften zum Thema alternde Gesellschaft und Politik. Der- oder diejenige sollte allerdings eine Promotion anstreben. Da ich damals bereits mit meiner Promotion an der London School of Economics and Political Science (LSE) zum Thema politische Partizipation älterer Menschen in Europa in den letzten Zügen war, schrieb ich ihn an, ob es nicht auch eine Möglichkeit gebe, an dem Projekt als Postdoc mitzuwirken. Ein Interview in Herrn Streecks blitzeblank aufgeräumtem Büro – und schon ein paar Monate später startete mein Postdoc-Stipendium in Köln.
Ins rheinische Köln zu kommen, hieß für mich, in die Heimat zurückzukehren. Ich war bis 1998 im benachbarten Düren aufgewachsen und wusste, wie man mit hastig nach dem Krieg aufgebauten Städten und dem komischen Regiolekt zurechtkommt. Mit großem Behagen begann ich schnell wieder, „Wurst“ wie „Wuchst“ auszusprechen. Nach kurzem Aufenthalt im grün-schicken Sülz ließen meine Familie und ich uns im konservativ-bürgerlichen Neuss bei Düsseldorf nieder, wo wir heute noch leben.
Entscheidend für meine berufliche Karriere war in der Zeit am MPIfG die große Anzahl an Koautorinnen und -autoren, die ich in meinen achtzehn Monaten dort kennenlernte und mit denen ich teilweise bis heute arbeite und auch privat eng befreundet bin: Christian Breunig und Marius R. Busemeyer (beide Universität Konstanz), Martin Höpner (MPIfG), Guido Tiemann (IHS Wien), Stefanie Walter (Universität Zürich), Mark Vail (Wake Forest University), Pieter Vanhuysse (University of Southern Denmark) oder Simon Weschle (Syracuse University). Auch mein wichtigster späterer Koautor, Dennis C. Spies, der 2021 als frisch berufener Heisenberg-Professor im Alter von nur 40 Jahren versterben würde, stand 2006 eines Tages keck in der Tür und stellte sich als studentische Hilfskraft von Christine Trampusch vom Büro gegenüber vor.
»Für meine Forschung im Grenzbereich zwischen Soziologie und Politikwissenschaft fand ich das MPIfG mit seinem inhaltlich getriebenen Ansatz, der keine disziplinären Grenzen kennt, hilfreich.«
Am Standort Köln lernte ich ebenso André Kaiser und Hans-Jürgen Andreß kennen. Sie begleiteten mich als Mentoren bei der Habilitation an der WiSo-Fakultät der Universität zu Köln 2010, wo ich nach meiner Zeit am MPIfG ab 2008 als Assistent tätig war. 2011 wurde ich mit 33 Jahren auf eine Professur für Methoden der Empirischen Politikwissenschaft nach Duisburg-Essen berufen. 2016 kehrte ich für ein halbes Jahr an das MPIfG als Gastprofessor zurück. Seit 2021 bin ich Mitglied der Faculty der International Max Planck Research School on the Social and Political Constitution of the Economy (IMPRS-SPCE), in der ich nun mit meinem Habil-Mentor André Kaiser sowie meinen ehemaligen MPIfG-Kolleginnen Christine Trampusch und Sigrid Quack, die nun auch in Duisburg lehrt und forscht, zusammenarbeite. Meine Forschung lag immer im Grenzbereich zwischen Soziologie und Politikwissenschaft mit weiteren inhaltlichen Anschlüssen zur Psychologie und Ökonomie. Deswegen fand ich das MPIfG mit seinem inhaltlich getriebenen Ansatz, der keine disziplinären Grenzen kennt, hilfreich. Außerdem bin ich schlichtweg gerne dort, mit vielen alten Bekannten und einem schönen, zentral gelegenen Gebäude.
In der Forschung war ich von Anfang an ein Menschenforscher, der zu verstehen suchte, wie Menschen sich in unterschiedlichen Kontexten politisch verhalten, was sie politisch denken und wie sie sich entscheiden. Dabei habe ich immer versucht, grundlegende demografische Veränderungen wie Alterung und Einwanderung bezüglich ihrer Implikationen auf der Mikroebene zu untersuchen, eine Art „politikwissenschaftliche Demografie“. Die Mainstream-Wahlforschung bewunderte ich für die methodische Raffinesse und versuchte, sie inhaltlich vor allem am Politics-Policy-Nexus zur Sozialpolitik zu erweitern, um größere Fragen nach Feedback-Schleifen und den Wechselwirkungen zwischen Mikro- und Makroebene zu beantworten, zum Beispiel: Wie verändert das Sozialpolitikangebot die Einstellungen und das Verhalten der Bürger?
In meiner Postdoc-Zeit am MPIfG entstand aus meiner Dissertation das Buch The Political Participation of Older People in Europe. 2012 und 2021 folgten Sammelbände zu den Themen Politik, Alterung und Migration zusammen mit Pieter Vanhuysse, den ich 2006 beim Italiener auf der Severinstraße nahe beim Institut kennengelernt hatte. Ab 2013 forschte ich mit Dennis Spies zum Wahlverhalten von Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte und wir leiteten die Immigrant German Election Studies I und II (ab 2021 mit Sabrina J. Mayer). 2019 wurde mir einer der seltenen Consolidator Grants des European Research Council zugesprochen, mit dem ich derzeit bis 2025 experimentell politische Solidaritäten untersuche, etwa zu der Frage: Wann ist wer für wen bereit, Kosten der Umverteilung ohne eigenen Nutzen zu tragen?
Meine aktuelle Wirkungsstätte, die Universität Duisburg-Essen, hat mit sechzehn Professuren das größte Institut für Politikwissenschaft in NRW und das drittgrößte in Deutschland. Man kann dort Politikwissenschaft in ihrer ganzen Schönheit und Breite studieren und erhält in allen grundständigen Studiengängen eine umfassende Ausbildung in qualitativen und quantitativen Methoden. Mein Team und ich haben die Aufgabe, diese Ausbildung zu gewährleisten. Was mir dabei geholfen hat, waren die Kenntnisse aus meiner eigenen Forschung in qualitativen Methoden (vor allem Interview- und Fokusgruppenforschung, qualitative Inhaltsanalyse) und quantitativen Methoden (Survey-Forschung, Experimente, angewandte Statistik). Wie alle Methodenprofs kämpfe ich tagtäglich damit, dass viele Studierende erst einmal die Pflichtausbildung hassen, bevor einige dann die optionalen Methodenkurse wertschätzen und die Bedeutung dieser Skills für den Arbeitsmarkt verstehen. In der Duisburger Politikwissenschaft haben 25 Prozent der Studierenden eine familiäre Migrationsgeschichte und 25 Prozent gehören zur ersten Familiengeneration an der Universität, eine Heterogenität in den strukturellen Vorbedingungen des Studiums, die für mich zugleich fordernd und spannend ist.
Die Universität Duisburg-Essen, noch keine 20 Jahre alt, ist ein sehr guter Ort für meine Forschung und Lehre. Unsere Fakultät der Gesellschaftswissenschaften mit Politikwissenschaft, Soziologie und Sozioökonomie ist so etwas wie ein Aufsteiger in die Erste Bundesliga – das zeigen unsere Drittmittelerfolge im Fachgebiet Sozialwissenschaften der DFG. Interdisziplinäre Ansätze, wie ich sie am MPIfG kennengelernt hatte, sind bei uns in Forschung und Lehre möglich. Die Stadt Duisburg ist mir sehr lieb geworden. Sie zeigt eine faszinierende soziopolitische Unterschiedlichkeit ihrer Stadtviertel und der hier lebenden Menschen, die wir als Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler gewissermaßen „vor der Haustür“ erforschen können. So setzen wir die Immigrant German Election Study II als Panelstudie in Duisburg um. Aufregend ist seit 2021 das neue Deutsche Institut für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (DIFIS) an den Standorten Duisburg und Bremen, dem ich als Gründungsmitglied angehöre. Hier bietet sich die Chance zur Zusammenarbeit mit Forschenden verschiedener Universitäten und auch mit weiteren alten MPIfG-Bekannten wie Simone Leiber und Frank Nullmeier. Das DIFIS eröffnet mir zudem neue Möglichkeiten der Kooperation mit Ökonomen und mit praxisnahen Akteuren.Zwischenüberschrift 2
»In Duisburg-Essen wollen wir den alten Studiengang „Philosophy, Politics and Economics“ aus Oxford mit seinen sozial homogenen Kontexten neu im 21. Jahrhundert an Rhein und Ruhr etablieren.«
In der Lehre ist es unser neues Ziel, zusammen mit der Philosophie in Essen und der Sozioökonomie in Duisburg einen selektiven Bachelor-Studiengang Philosophy, Politics and Economics zu versuchen, der Analysefähigkeit, Interdisziplinarität und Entscheidungsfähigkeit im gesellschaftlichen Kontext größter sozialer Heterogenität in den Vordergrund stellt. Die Vision ist dabei, den alten Studiengang „Philosophy, Politics and Economics“ aus Oxford mit seinen sozial homogenen Kontexten zu verbessern und neu im 21. Jahrhundert an Rhein und Ruhr mit sozial äußerst heterogenen Kontexten zu etablieren: Kluge, sachlich informierte Entscheidungen zu fällen und zu kommunizieren, ist dabei ein Kernziel. In diesem Studiengang, der mit seiner interdisziplinären Herangehensweise dem MPIfG-Forschungsansatz ähnelt, agiert mit Till van Treeck ein weiteres Faculty-Mitglied der IMPRS-SPCE.
In Summe waren und sind die Menschen, die ich am MPIfG kennenlernte, äußerst wichtig für meine berufliche und private Entwicklung: sei es als Ratgeber, Koautoren oder Mentees. Das Kölner Institut war und ist zudem immer ein wichtiges Austauschforum für meine Ideen. Dass es im heimischen Rheinland liegt und mir als Wissenschaftler die seltene Möglichkeit gab, die Frage „Wer bin ich und was macht mich aus?“ in mehrfacher Hinsicht etwas einfacher zu beantworten, war ein glücklicher Zufall und gewaltiger Pluspunkt für mich.