Sascha Münnich

17. Mai 2022

Professor für die Soziologie der Wirtschaft an der Europa-Universität Viadrina | Doktorand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPIfG von 2005 bis 2013

Es gehört zu den erstaunlichsten Aspekten der eigenen Prägung, dass man sie erst bemerkt, wenn man den Ort verlassen hat, an dem man sie erworben hat. Der Weg, der mich seit dem Frühjahr 2013 nach acht Jahren vom MPIfG weggeführt hat, war in vielerlei Hinsicht eine Bewegung auf das MPIfG zu, nämlich zu einer doppelten sozialwissenschaftlichen Grundhaltung, die mir dort nicht nur akademisch, sondern auch durch das spezifische Sozialleben am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung nähergebracht wurde.

Erstens ist da die Überzeugung, dass sozialwissenschaftliche Forschung und Lehre weder theorie- noch methodengetrieben sein sollte, sondern durch soziale Probleme angestoßen wird. Die „kausale Rekonstruktion“ (Renate Mayntz) soll also durch theoretische Konzepte geleitet werden und methodisch diszipliniert erfolgen, aber nicht umgekehrt. So war meine Dissertation, in der es um einen Vergleich der Entstehungsgeschichte der Arbeitslosenversicherung in Deutschland (1927) und den USA (1935) ging, von den Unterschieden und Ähnlichkeiten der dafür verantwortlichen divergierenden sozialpolitischen Problemlagen getrieben. Zugleich aber wollte sie ein begriffliches Gerüst entwickeln, um mit der Fülle an ideenorientierten Policy- und Institutionentheorien umzugehen. Es war die Problemorientierung des MPIfG, die mich davor bewahrte, mich für die Dissertation einfach einem einzigen Camp der ideenorientierten Policy-Analyse anzuschließen.

Die Problemorientierung der Sozialwissenschaften schnappte ich als junger Mensch, dem zunächst noch nicht klar war, ob er denn Wissenschaftler oder doch lieber Musiker werden würde, auch durch das einzigartige Gesprächsklima am Institut auf. In Mittags- oder Kaffeerunden ging es zielsicher und ohne viel Anmoderation um die aktuellen politischen und sozialen Geschehnisse der Woche. Nach so einer Mittagspause bleibt das Wirken unweigerlich problemorientiert – schon allein, um beim nächsten Kaffee eine neue Perspektive anbieten zu können. Die Sozialwissenschaften wurden so für mich die Fortsetzung des Nachdenkens über soziale Probleme mit anderen Mitteln – und dies sogar im täglichen Zeitablauf.

»Sozialwissenschaftliche Forschung und Lehre sollte weder theorie- noch methodengetrieben sein, sondern durch soziale Probleme angestoßen werden.«

Auch nach Abschluss meiner Promotion im Jahr 2009, dann als Postdoc bis 2011 und in zwei weiteren Jahren als Senior Researcher auf einer Habilitationsstelle bei Jens Beckert blieb ich in meiner Arbeit an dem Verhältnis von kultureller und ökonomischer Seite kapitalistischer Gesellschaften interessiert. In der für alle Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler schwierigen Phase der Loslösung von der Promotion war es vor allem die Finanz- und Eurokrise, die uns umtrieb und in Konferenzraum und Cafeteria besonders intensiv diskutiert wurde. Debatten um „Heuschrecken“-Verhalten von Investmentfonds, „gierige“ Spekulanten und die überbezahlten Finanzmanager brachten mich dazu, an einer spezifischen Grundfrage zu forschen: Wann sind welche Formen und Umfänge des Profits legitim, wann sind sie moralisch inakzeptabel?

Der zweite wichtige Aspekt meiner in Köln erworbenen soziologischen Grundhaltung ist die am Institut als selbstverständlich erachtete Berücksichtigung historischer Perspektiven für jede soziologische Analyse. Die Frage, die die klassische politische Theorie und die Gründergeneration der europäischen Soziologie gleichermaßen umtrieb, wie nämlich der stete historische Wandel von Institutionen mit den Stabilitäten der Funktionsprinzipien kapitalistischer Gesellschaften zu verbinden sei, war in Köln so präsent, dass sie mir als Grundfrage der Soziologie schlechthin erschien. Es war nicht so sehr die Behandlung historischer Stoffe oder Ereignisse am MPIfG, sondern es war die diskursive Selbstverständlichkeit bei allen Forschenden im Hause, ökonomische und politische Strukturen immer und überall – auch dort, wo man sie auf ihre aktuellen Dynamiken hin befragen will – als historisch gewachsene zu begreifen. So kam es dann auch, dass ich die aktuellen Finanzdebatten zwischen Lehman und Occupy immer auch als Wiederkehr alter moralischer Muster der Profit- und Spekulationskritik untersuchte.

Auch hier verband sich Forschungsperspektive mit sozialer Umgebung des MPIfG: Zur persönlichen Erfahrung, nicht mehr zu den Jüngsten zu gehören, nach Geburt meiner beiden Söhne 2011 und 2013, trat dann auch die akademische Selbstwahrnehmung als Teil einer neuen Generation, was natürlich durch die enorme Dichte der Vernetzung junger Forschender am MPIfG verstärkt wird. Wenn die Frage lautet, warum das MPIfG eigentlich so erfolgreich viele junge Menschen nachhaltig zu den Sozialwissenschaften bringt, liegt die Antwort in einem Effekt von Historizität, den ich nach meiner Zeit in Köln auch als John F. Kennedy Memorial Fellow am Center for European Studies der Harvard University von 2014/15 spüren sollte: Wird einem jungen Menschen das Tor zu einer solchen Institution geöffnet, begegnet er auch der selbstverständlichen Erwartung, auf den historisch dort gewachsenen „Schultern der Riesen“ nicht zu wackeln. Es ist die Historizität der Umgebung, ihr gewachsenes Prestige und die Akkumulation ihrer Ressourcen über lange Zeit, die, ohne irgendetwas sagen zu müssen, bei den Nachkommenden ihre Fortsetzung anmahnt. Und das ist viel mächtiger als jede kritische Nachfrage, jedes Stirnrunzeln oder Bartkräuseln des Betreuers es je sein könnte.

Als ich das MPIfG verließ, beschäftigte ich mich als Juniorprofessor (ohne Tenure-Track) in Göttingen ab April 2013 dann in erster Linie mit einer historisch-vergleichenden Untersuchung des Wandels der Legitimierungsmuster der Finanzmarktregulierung in Deutschland und Großbritannien seit dem 19. Jahrhundert. Ich hatte dann das Glück, diese Fragestellung in einem dreijährigen größeren BMBF-Forschungsprojekt zur gesellschaftlichen Legitimität von Finanzprofiten vertiefen zu können. In diesem Projekt, das bis 2019 lief, untersuchten mein Team und ich öffentlich-mediale Kritikformen am Finanzmarkt und die professionelle Arbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen in Deutschland, Spanien, Frankreich, Großbritannien und auf EU-Ebene, die den Versuch unternahmen, die Finanzmarktregulierung und die öffentlichen Debatten darüber zu verändern.

»Wird einem jungen Menschen das Tor zu Institutionen wie dem MPIfG oder dem CES geöffnet, begegnet er auch der selbstverständlichen Erwartung, auf den historisch dort gewachsenen „Schultern der Riesen“ nicht zu wackeln.«

Im Oktober 2019 wurde ich dann, wiederum in Göttingen, auf meine erste, noch befristete Vollprofessur berufen, eine W2 für „Allgemeine Soziologie mit dem Schwerpunkt Soziologische Theorie“. Im Oktober 2020 trat ich schließlich meine erste unbefristete W3-Professur für „Soziologie der Wirtschaft“ an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) an. Als eines von nur drei soziologisch orientierten Mitgliedern der Kulturwissenschaftlichen Fakultät arbeite ich hier mit Kolleginnen und Kollegen aus den Sprach- und Geschichtswissenschaften zusammen und lehre soziologische und politökonomische Grundlagen. In meiner aktuellen Forschung beschäftige ich mich unter anderem mit ökonomischem Nationalismus, der Bedeutung von Gesellschaftskritik als Motor wirtschaftlicher Entwicklung sowie Zwangsarbeitsverhältnissen im globalen Kapitalismus.

Ich betrachte bis heute soziologische Theorie und Konzepte als unlösbar von historisch gewachsenen sozialen Problemlagen. Es ist dies meine „Kölner Seite“: Soziologische Forschung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie zwar weiß, dass angesichts des gesellschaftlich-historischen Wandels von Problemlagen kein universales Wissen je möglich ist, ja, dass die Illusion des „ewigen Wissens“ sie zu einer gefährlichen Sozialtechnologie machen kann. Aber zugleich gilt auch, dass die Soziologie dann ihren Sinn verliert, wenn sie aufhört, nach universalem Wissen zu streben. Peter Sloterdijk hat einmal gesagt, das Interessanteste am Fußball sei die „Fähigkeit der jungen Spieler, hinzufallen und wieder aufzustehen“ (SPIEGEL, 23/2006, S. 73). Vielleicht gilt das ja auch für die Soziologie.

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