Ordnung und Fragilität des Sozialen

Renate Mayntz im Gespräch mit Ariane Leendertz und Uwe Schimank

Anlässlich des 90. Geburtstags von Renate Mayntz geben Ariane Leendertz und Uwe Schimank im Campus Verlag den Interviewband Ordnung und Fragilität des Sozialen: Renate Mayntz im Gespräch heraus. Der Band enthält neben ausführlichen Interviews mit Renate Mayntz zu ihrem beruflichen Werdegang und wissenschaftlichen Denkstil auch ausgewählte Aufsätze aus den Jahren 1955 bis 2019. Ihm entstammt die hier abgedruckte Interviewpassage zur Schaffensphase an der Universität zu Köln und bei der Max-Planck-Gesellschaft (1973–1985).

Ariane Leendertz (AL): Du bist 1973 von Speyer nach Köln gegangen, als Lehrstuhlinhaberin für Soziologie und Direktorin des Instituts für angewandte Sozialforschung. Warum bist Du nach Köln? Renate Renate Mayntz (RM): […] Der Hauptgrund war ein privater. Mein Mann und ich haben zu der Zeit entschieden, dass Berlin auf Dauer zu unsicher ist und dass wir, auch für die Zeit nach seiner Emeritierung, irgendwo im Kölner Raum, in Westdeutschland, ein Haus bauen wollen, ein Haus mit Atelier. […] Es war eine Art Familienentscheidung, dass ich den Ruf annehme. Dann haben wir das Haus in Mechernich gebaut.

Uwe Schimank (US): Sie haben in Ihren Selbstdarstellungen immer mal wieder betont, die Lehre habe Sie nicht besonders interessiert, sie war eher ein notwendiges Übel, um Forschung in einem Sinne von autonomer Forschung machen zu können.
RM: Unter Lehre verstand ich damals: Der Professor steht auf dem Podest und hat unten 300 Leute, auf die er einreden muss. Dieses Stehen und Reden hat mich eigentlich immer abgestoßen. Ich habe sehr gerne zugehört, wenn ich selber da unten saß, aber ich stand sehr ungern oben, um nur mitzuteilen und nicht selber zu lernen. In Seminaren dagegen lerne ich in der Auseinandersetzung immer selber, das ist etwas ganz anderes. […] Ich habe immer sehr gern mit jungen Menschen gearbeitet, mit Studenten oder Doktoranden, in Seminaren oder in Forschungsprojekten.

US: Gut, das war jetzt der Einschub zur Lehre.
RM: Die Politikberatung fiel auch überwiegend in die Kölner Zeit. Als ich dann 1984 in die MPG kam, sagte mir ein wohlmeinender Kollege, die viele Politikberatung müsste ich nun wohl lassen oder zurückfahren, denn jetzt ginge es um Grundlagenwissenschaft. Was ich tat, schien schon zu angewandt.

AL: Deine wichtigsten Beratungsgremien – Bildungsrat, Projektgruppe, Studienkommission – liefen bis 1973, 1975. Danach hast Du noch weitere Auftragsarbeiten und Beratungstätigkeiten gemacht?
RM: Ja. Zum Beispiel habe ich zusammen mit einem Kollegen von der Kölner Uni 1980 für die Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (GMD) eine (nicht veröffentlichte) Studie über Primär- und Sekundär-Dokumentationen in Wirtschaft, Wissenschaft und öffentlicher Verwaltung gemacht. Später habe ich für die GMD noch eine zweite, umfangreiche Studie über Informations- und Kommunikationstechnologien gemacht. Thematisch gibt es hier eine Verbindung zu den ersten Projekten im MPIfG. Außerdem war ich im Senat der DFG, habe eine Untersuchung für den Sachverständigenrat für Umweltfragen gemacht und hatte auch Forschungsaufträge vom Bundesministerium für Arbeit. In die Zeit an der Kölner Uni fiel auch der Verbund zur Implementationsforschung, der von der DFG finanziert wurde, und das Projekt über regulative Politik und politisch-administrative Kultur, an dem auch Sabino Cassese beteiligt war. Alle diese Projekte hatten ein Team von Mitarbeitern, das Projekt zur regulativen Politik war ein Vergleich von fünf Ländern, da war immer Projektmanagement gefragt; aber das habe ich gern gemacht, viel lieber, als zu lehren.

AL: Mit der MPG hattest Du schon vor Deiner Berufung verschiedene Kontakte. Du warst von 1972 an im Fachbeirat des Starnberger Instituts [Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, 1970–1984], für die ersten vier Jahre als Vorsitzende. Du warst auch im Fachbeirat des MPI für Bildungsforschung in Berlin und später warst Du in verschiedenen Funktionen als Gutachterin im Starnberger Fall und als Expertin bei der Neugründung aktiv. Wie hast Du die MPG damals wahrgenommen?
RM: Als eine Wissenschaftsorganisation aus sehr vielen verschiedenen Instituten mit einem Schwergewicht im Bereich Naturwissenschaften und auch mit einer besonderen Wertschätzung der Naturwissenschaften. Ich fand das sehr verständlich und nachvollziehbar. 

AL: Kam sie Dir elitär vor?
RM: Elitär? Eigentlich nicht. Es war ja bekannt, dass es eine Art akademischer Elite ist, und das nimmt man wahr. 

AL: Das Starnberger Institut war sehr oft in der Presse und hat diese Medienöffentlichkeit auch gesucht. Es ist, auch von von Weizsäcker und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, oft als besonderes Institut beschrieben worden. Kannst Du mit dieser Selbstbeschreibung etwas anfangen?
RM: Jedes Institut ist besonders. Selbstverständlich, die Themen, die sie in Starnberg hatten und die Richtung, die da eingeschlagen wurde, darüber wurde kontrovers diskutiert. Es zog mehr öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. […]

»1984 gründete die Max-Planck-Gesellschaft ein neues sozialwissenschaftliches Institut, das MPIfG in Köln, geleitet von Renate Mayntz. Die Neugründung war die Antwort auf ein gescheitertes Experiment, auf das sich die MPG vierzehn Jahre zuvor eingelassen hatte. In Die pragmatische Wende (Vandenhoek & Ruprecht 2010) zeichnet Ariane Leendertz die Diskussionen und Entscheidungen nach, die zur Schließung des Starnberger MPI zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt sowie zur Kölner Neugründung führten.« 

AL: Nun können wir ja einerseits sagen, dieses Institut ist gescheitert, weil es letztlich geschlossen wurde. Es hat aber auch zehn Jahre produktiv wissenschaftlich gearbeitet und Du bist als Fachbeiratsmitglied wahrscheinlich eine der wenigen gewesen, die wirklich einen Überblick darüber hatten, was die eigentlich gemacht haben. Was, würdest Du sagen, was waren die wichtigsten Dinge, die in diesem Institut wissenschaftlich produziert worden sind?
RM: Sie haben verschiedene Sachen gemacht, die für verschiedene Publika wichtig waren. Für mich waren immer die Arbeiten über Wissenschaftsentwicklung wichtig, das hat mich am meisten interessiert. […] 

AL: Man muss aber schließlich noch sagen, dass diese Starnberg-Erfahrung bei Deinem Start in Köln 1984 schon eine Rolle gespielt hat.
RM: Nach meiner Tätigkeit im Starnberger Beirat dachte ich, ich hätte mich unbeliebt gemacht, weil ich die Max-Planck-Oberen für ihren Umgang mit den Problemen dort kritisiert habe. Ich war der Überzeugung, ich bin für die Max-Planck-Gesellschaft Persona non grata. Ich war überrascht, dass ich zu einer Sitzung der Kommission für die Neugründung eines sozialwissenschaftlichen Instituts eingeladen wurde. Eigentlich wollte ich nicht hinfahren, ich hatte viel mit einem Projekt zu tun, eine frühere Projektmitarbeiterin hat mich dann dazu gebracht. Ich habe erst im Flugzeug die Sitzungsunterlagen gelesen. Als ich am Ende der Sitzung gefragt wurde, ob ich eventuell daran denken würde, dieses Institut zu gründen, bin ich aus sämtlichen denkbaren Wolken gefallen. So überrascht war ich in meinem ganzen Leben noch nicht. Über nichts, über kein Angebot. 

AL: Und wie lange hast Du drüber nachgedacht?
RM: Zwei Minuten. 

AL: Hat die MPG damals bestimmte Vorgaben oder Erwartungen an Dich formuliert für diesen Neuaufbau?
RM: Nicht expressis verbis, aber die Erwartung war, bitte keine Wiederholung von Starnberg. Aber kein Mensch hat diese Erwartung je in diese Worte gefasst. 

AL: Wann ist Dir klar gewesen, dass Du Fritz Scharpf mit im Boot haben möchtest? Zuerst wollte die MPG ja, dass Du es alleine leitest.
RM: Ja, die MPG wollte das gern. Aber eine zweite Direktorenstelle war im Stellenplan. Es war auch durchaus eine gewisse Enttäuschung, als sie sahen, dass ich schon so schnell nicht mehr allein Direktor sein wollte. Aber das war nun mal zugesagt, also konnte man nichts dagegen machen. 

AL: Hast Du es erwogen, das Institut alleine zu leiten?
RM: Ich hatte mit Fritz Scharpf über Jahre kollegial zusammengearbeitet, erst in der Projektgruppe, später im Implementationsverbund. Das war eine ganz enge kollegiale Zusammenarbeit, wo keiner den anderen je dominiert hat oder auch nur zu dominieren versuchte. Die Zusammenarbeit haben wir beide immer als fruchtbar für unsere eigene Arbeit empfunden und für das gemeinsame Produzieren. Es war ganz klar: Wenn man schon die Chance hat, noch jemanden dazuzuholen, dann geht man auf den Menschen zu, mit dem man schon produktiv zusammengearbeitet hat. 

AL: Das heißt, es war für Dich die Gelegenheit, diese produktive Zusammenarbeit zu verstetigen?
RM: Ja. In dem Moment, als mir klar war, was das heißen würde, so ein Institut aufzubauen, war ich mir ganz sicher. 

AL: Was waren für Dich dann die größten Herausforderungen mit so einem großen Institut?
RM: Die richtigen Personen zu finden, sie zu motivieren und zu sehen, dass das Ganze nicht explodiert oder zerfällt. Es gab ja durchaus Phasen, in denen wir etwas kämpfen mussten, es gab auch interne Querelen, es gab immer wieder einzelne Personen, die in dieser oder jener Beziehung problematisch waren. Eine größere Zahl von Personen ist nie leicht zu leiten. Oder ihnen einen Rahmen zu geben, in dem sie produktiv zusammenarbeiten, das ist nie leicht. 

US: Ich habe aus der kurzen Rede, die Sie bei Ihrer Emeritierung gehalten haben, ein schönes Zitat gefunden, was das noch mal ein bisschen verallgemeinert. Da haben Sie gesagt: „Wenige Monate nach seiner Gründung begann sich das neugeschaffene MPIfG unter meinen Augen zu einem sozialen Gebilde zu verselbständigen, das von mir nicht mehr in allen Einzelheiten bestimmt wurde: Es leistete Widerstand und entwickelte eigene Initiativen, top-down- und bottom-up-Prozesse trafen aufeinander, kurz, es fand genau jenes Zusammenspiel von gezielter Steuerung und spontaner Selbstorganisation (oder sozialer Eigendynamik) statt, das Fritz Scharpf und ich zum zentralen Thema unseres Forschungsprogramms gemacht hatten.“
RM: Besser kann man es doch gar nicht sagen. 

US: Deswegen zitiere ich es ja.
RM: Das würde ich heute auch noch so sagen. 

US: Wenn jemand anders das so gesagt hätte, dann könnte man meinen, es sei bedauernd oder unangenehm überrascht gemeint. Aber Sie waren von vornherein darauf vorbereitet, dass es so sein würde.
RM: Wieso bedauernd? Das war so erwartet, es hat mich nicht überrascht und selbstverständlich nicht enttäuscht. Ich wusste, wie so was funktioniert. Ich kannte doch verschiedene Institute. 

US: Wenn man die spätere Entwicklung mit dem Forschungsprogramm abgleicht, das Sie an den Anfang gestellt haben: Würden Sie sagen, bestimmte Dinge haben wir übersehen, oder: Die machen doch nicht so viel Sinn, das lassen wir sein und greifen dafür andere Dinge auf? Hat es da große Revisionen oder Modifikationen gegeben?
RM: Die Forschungsprogramme haben sich im Laufe der Zeit stark geändert. Wenn Sie die wenigen Jahre nehmen, die ich das Institut geleitet habe – das ist ja nicht übermäßig lange gewesen –, und wenn Sie die Jahre mit meinen Nachfolgern dazu nehmen, dann kann man an der Entwicklung der Forschungsprogrammatik sehr gut ablesen, was ich in der Wissenschaftsforschung schon mal mit Bezug auf die Steuerungstheorie gesagt habe. Nämlich dass solche Entwicklungen immer ein Produkt aus einer internen kognitiven Dynamik und der Wahrnehmung von externen Veränderungen sind. Als Sozialwissenschaftler sind wir im Grunde genommen auf die Gegenwart fixiert, und da die Gegenwart sich dauernd verändert – sozioökonomisch, politisch –, ändern sich notwendigerweise die Fragen, die die Gegenwart uns stellt. So würde ich das sehen. An den Forschungsprogrammen unseres Instituts kann man ziemlich genau das Aufkommen beziehungsweise die größere Bedeutung der Europäischen Union ablesen, dann die fortschreitende ökonomische Globalisierung und schließlich die Veränderung der weltpolitischen Lage. Und technische Entwicklungen, die dies alles beeinflussen. Man kann nicht auf alles eingehen und hätte auch auf andere Aspekte des Wandels reagieren können, aber auf bestimmte Aspekte dieses Wandels hat das Programm immer reagiert. Und das finde ich gut. 

AL: Mir würde jetzt noch einfallen: Was ist das Schönste daran, ein solches Institut zu leiten? Es ist ja eigentlich Dein Traumjob gewesen.
RM: Ja. Das war mein Traumjob. Nicht nur als einzelnes Individuum die Antworten auf die Fragen zu suchen, die Dich interessieren, sondern einen Stab von Mitarbeitern zu haben, die an ähnlichen Fragen interessiert sind und von deren Ergebnissen Du lernen kannst. Das ist das Schönste.

Auszug aus: A. Leendertz und U. Schimank (Hg.): Ordnung und Fragilität des Sozialen: Renate Mayntz im Gespräch. Campus, Frankfurt a.M. 2019, 65–72.

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